Quartierleben
Ärztemangel: real oder ein Papiertiger?
Im Kanton Zürich hat die Anzahl berufstätiger Ärzt*innen seit 2009 stetig zugenommen. Dennoch können viele Praxen keine neuen Patien*innen mehr aufnehmen. Die Gründe dafür sind vielschichtig.
24. Juni 2020 — Patricia Senn
2019 waren 62 Ärzt*innen in Höngg tätig, davon 28 im ambulanten Bereich, also in einer Praxis, 33 im Spitalsektor und eine Person in einem anderen Sektor. Die Fachärzt*innen Allgemeine Innere Medizin arbeiten meist in der Hausarztmedizin. 2019 betraf dies in Höngg 14 Personen. Eine von ihnen ist Dr. Daniella Shmerling. Lange war sie in Höngg eine der wenigen Allgemeinmedizinärzt*innen, die noch neue Patient*innen annahm, dieses Jahr trat auch sie in den Ruhestand. Obwohl die Statistiken des Berufsverbands der Schweizer Ärztinnen und Ärzte FMH im vergangenen Jahr erneut ein leichtes Wachstum der Ärzteschaft verzeichnen konnte, kamen viele Allgemeinmediziner*innen im Praxissektor, oder eben Hausärzt*innen, an ihre Kapazitätsgrenzen. Kann man deshalb schon von einem Ärzt*innenmangel sprechen?
Abschlüsse nehmen zu, Teilzeitarbeit aber auch
Dass die Abschlüsse im Fachbereich Allgemeine Innere Medizin in den vergangenen Jahren zugenommen haben, habe verschiedene Gründe, meint Dr. Marco Zoller, Mitinhaber der Praxisgemeinschaft am Meierhof. Seit 2005 gibt es in der Schweiz mehr und mehr Hausarztprofessuren. Diese Akademisierung rückt das Fach auf Augenhöhe mit Spezialdisziplinen wie Neurologie oder Gastroenterologie und eröffnet neue Karrieremöglichkeiten. Zugleich wird die Bedeutung des Faches auch politisch stärker wahrgenommen, tendenziell holt die Entlöhnung im Vergleich zu anderen Fachspezialisten etwas auf. Schliesslich erleichtern Gemeinschaftspraxen oder ambulante Institutionen für die Hausärzt*innen auch Teilzeitmodelle deutlich. Doch hier liegt auch der Grund, weshalb die Zunahme der Hausarztabschlüsse mit Vorsicht zu bewerten ist: Die absoluten Zahlen sagen nichts darüber aus, zu wie viel Prozent die Ärzt*innen berufstätig sind.
Das Modell des lebenslangen Hausarztes verschwindet
Der Wandel der Zeit zeige sich in allen Berufen und macht auch vor dem Gesundheitswesen nicht Halt. Heute achten Arbeitnehmende vermehrt auf eine ausgeglichene Verteilung von Freizeit und Beruf und arbeiteten in Folge öfter in Teilzeit, insbesondere die Frauen, aber auch immer mehr Männer. Während in den Spitälern die Mehrheit der Ärzt*innen mehr als 90 Prozent arbeitet, sind im Praxisbereich mehr als die Hälfte unter 90 Prozent tätig. Wobei auch diese Zahl mit Vorsicht zu geniessen ist, denn das Vollzeitäquivalent entspricht 55 Stunden pro Woche. Viele scheuen auch das finanzielle Risiko einer Selbstständigkeit und lassen sich aus diesem Grund lieber im Spital oder in einer ambulanten Einrichtung anstellen. Diese Entwicklung sei nicht zu werten, die Welt verändere sich nun mal, findet Dr. Shmerling, die trotz Suche keine Nachfolgerin finden konnte. Eine Einzelpraxis sei in einem Teilzeitpensum jedoch nicht zu führen, wahrscheinlich ein Grund, wieso das klassische Modell am Aussterben ist, meint Dr. Shmerling. Gegen Ende ihrer Selbstständigkeit sei es auch für sie immer schwieriger geworden, erzählt die Ärztin. Sie, die ihre Berichte gerne noch selber schrieb, sah sich mit einem immer grösseren Umfang an administrativen Arbeiten konfrontiert. Zwar könnten manche Dinge durch die Digitalisierung effizienter erledigt werden, aber die schiere Anzahl an Formularen und Dokumenten, die auszufüllen seien, führe dazu, dass man entweder abends länger arbeiten, oder aber die Sprechstunden für die Patient*innen reduzieren müsse. Man geht davon aus, dass die Ärzt*innen heute rund einen Drittel der Sprechstundenzeit zusätzlich für administrative Arbeiten aufwenden müssen. Daneben fallen ergänzende Arbeiten an, die nichts mit den Kernaufgaben zu tun haben, sondern mit der Geschäftsführung. Diese Arbeiten können nicht verrechnet werden, doch die Fixkosten bleiben dieselben: Die Kosten für die Infrastruktur und die mittlerweile hohen Mieten in der Stadt muss man alleine tragen. Diese Überlegungen musste auch Dr. Zoller anstellen, als er vor gut 28 Jahren mit seinem Arztkollegen, Peter Christen, die Gemeinschaftspraxis am Meierhofplatz eröffnete. «Der finanzielle Druck ist hoch, die Anschaffung von grösseren neuen Geräten lässt sich schlicht nicht alleine stemmen», meint der Arzt. Mittlerweile sind sie drei Inhaber*innen, insgesamt arbeiten acht Ärzt*innen in der Praxis, die meisten in Teilzeit, zwei bis drei aber zu hohen Pensen, anders wäre es nicht möglich. Sie nehmen zwar noch neue Patient*innen auf, je nach Auslastung kann es aber zu Wartefristen kommen. «Die Demografie des Quartiers spielt hier eine wichtige Rolle», meint Dr. Zoller. Es mache einen Unterschied, ob man 100 Patient*innen zwischen 30 und 50 Jahren betreut, oder 100 Patient*innen über 75 Jahre.
Öfter und früher zum Arzt
Auch der Berufsverband sieht den demografischen Wandel als einen Grund für die Überlastung oder mangelnde Kapazität in der immer älter werdenden Gesellschaft mit den entsprechenden Erkrankungen. Dr. Shmerling beobachtete im Laufe ihrer Karriere ausserdem, dass die Verunsicherung unter ihren Patient*innen stetig zunahm. Während man früher zu Hausmittelchen wie Wickel oder Tee zurückgegriffen habe, suche man heute viel früher den Arzt auf. Auch Dr. Google habe da einen Anteil daran, meint die Ärztin lakonisch. Den ersten Teil ihrer Sitzung habe sie nicht selten damit verbracht, den Patient*en die Krankheit auszureden, die das Internet ihnen diagnostiziert hatte. Gleichzeitig habe auch die Skepsis gegenüber den Fachspezialisten zugenommen; «dass das Bild der Götter in Weiss sich langsam auflöst, ist an sich aber nichts Schlechtes», meint die Ärztin.
Kinder- und Jugendfachärzt*innen gesucht
Besonders im Fachbereich Kinder- und Jugendmedizin ist die Situation schwierig. Zwar hat auch hier die Anzahl Ärzt*innen zugenommen, im ganzen Kanton Zürich arbeiten aber lediglich 218 Fachpersonen im ambulanten Bereich. Ein möglicher Grund dafür könnte die lange Benachteiligung des Fachbereichs sein: Seit Jahren kämpfen die Pädiatriker*innen um eine Aufwertung der kinderärztlichen Arbeiten und eine Verbesserung der Löhne.
Wer in der Stadt Zürich ein Kind zur Welt bringen möchte, sollte sich am besten schon während der Schwangerschaft auf die Suche nach einem Kinderarzt oder einer Kinderärztin machen. Dies rät die Vereinigung Zürcher Kinder- und Jugendärzte, welche bis zum Redaktionsschluss nicht für Fragen zu erreichen war. In Höngg gibt es seit der Pensionierung im Jahr 2016 von Frau Dr. Kathrin Wälti keine praktizierenden Kinderärzt*innen mehr. Ihre Nachfolgerin Dr. Angela Cascione zog nach erfolgloser Suche nach bezahlbaren Praxisräumen in ein anderes Quartier – auch das eine Realität in Höngg. Die Familien, welche in den letzten Jahren vermehrt nach Höngg gezogen sind, müssen nach Wipkingen, Altstetten oder Oerlikon ausweichen, wenn ihre Kinder ärztliche Betreuung benötigen. Leider war auch Dr. Cascione für ein Statement nicht zu erreichen.
Ein Drittel der Fachschaft ist über 60 Jahre alt
Wie sich die Situation in den kommenden Jahren entwickeln wird, wird sich zeigen. Bereits heute ist ein Drittel der Ärzteschaft über 60 Jahre alt. Ebenso viele besitzen ein ausländisches Diplom. Christoph Bosshard, Vizepräsident der FMH, zeigt sich in seinem Artikel zur Statistik 2019 besorgt über diese Abhängigkeit von ausländischen Arbeitskräften, auch aus dem Grund, dass andere Länder deren Ausbildung finanzieren, dann aber mit einem sogenannten «Brain Drain» konfrontiert werden. Auch er kritisiert die zunehmende administrative Belastung, die Berufsgruppen in der Gesundheitsbranche immer stärker von der Arbeit mit den Patient*innen abhält.
Von einem Ärzt*innenmangel zu sprechen, fasst also zu kurz. Die Anzahl Fachkräfte ist gestiegen, während gleichzeitig die Arbeitspensen gesunken sind, was die Suche nach einer Grundversorgung schwieriger gestaltet. Daneben spielt das veränderte Verhalten der Patient*innen ebenso eine Rolle wie die Gesundheitspolitik, die die Bedingungen erschwert. Die Frage, welche Ärztinnen und Ärzte eine Gesellschaft will, ist eine, die man nicht aus dem Auge verlieren sollte.
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