Und zwei Seiten und damit eine Woche später folgte dann der Bericht über den «Wandererempfang in Höngg»:
«Es war Samstag, den 8. November zwischen 16 und 17 Uhr, als sich im Dorfkern kleinere und grössere Gruppen ansammelten. Und wenn man fragte, was los sei, hiess es «De Fritz Meier chunnt hei». Bekanntlich waren die beiden jungen Höngger, Fritz Meier, Sohn von A. Meier, Eisenwaren, und Hansruedi Züllig, Sohn von P. Züllig, Baugeschäft, am 14. Juni 1958 zu einer Wanderschaft aufgebrochen, und zwar alles zu Fuss bis nach Brest, von da nach Dijon (2500 km). Hier musste umständehalber Hansruedi Züllig die Wanderschaft abbrechen. Letzterer war F. Meier ein lieber, treuer Weggefährte gewesen. Nun setzte F. Meier die Wanderung alleine fort und in St. Legière überschritt er die Schweizergrenze. Als man von der Heimkehr von F. Meier hörte, ging ihm sein Weggefährte H. Züllig entgegen, und ihnen wurde an der Hönggergrenze von zwei jungen Mädchen Blumen überreicht als Willkommensgruss. Im Dorf wurden sie von der Bevölkerung freudig begrüsst und beglückwünscht zu ihrer nicht alltäglichen Leistung. Es wurden ihnen nochmals Blumen überreicht, auch ein gefüllter Korb mit allerlei guten Sachen, die sie auf der Wanderschaft vermissten. Eine grosse Überraschung war es für die beiden, als einige Spieler des Handharmonikaclubs sie mit einigen Musikstücken erfreuten und so fand die Wanderschaft der beiden jungen Höngger ihren Abschluss. Am Montag, 10. November feierte F. Meier den 20. Geburtstag und zugleich Wiedersehen auch im engeren Freundeskreis.»
Meier freut sich, als er die beiden Artikel von damals sieht. Und er erinnert sich noch gut, dass der Auslöser zu diesem Abenteuer ursprünglich ihr geschätzter Sekundarlehrer Hans Graber gewesen sei: «Er erzählte uns immer wieder von seinen Reisen als Student durch Frankreich – und ein Spruch von ihm, wahrscheinlich in Anlehnung an Jean Jacques Rousseaux, hatte uns immer beeindruckt. Der besagte, dass wer irgendwo ankommen wolle, der nehme den Zug, ein Auto, ein Flugzeug – wer aber reisen wolle, der müsse zu Fuss gehen». Und so kam es, dass zwei von Grabers ehemaligen Schülern wenige Jahre später, Mitte Juni 1958, mit grossen Rucksäcken den Hönggerberg hinauf- und einfach weiterzogen.
Die späte Erkenntnis des Lehrmeisters
Seine Eltern seien damals, und das vergesse er ihnen nie, begeistert gewesen von den Wanderplänen ihres Juniors, erinnert sich dieser heute noch gut. Doch ganz anders habe dies sein ehemaliger Lehrmeister gesehen. Meier hatte erst gerade seine Lehre beim Eisenwarenfachgeschäft Byland am Rennweg beendet und war als Angestellter geblieben. Das sei doch Humbug, er müsse jetzt doch arbeiten und «etwas werden», habe Byland gesagt. Natürlich zog Meier trotzdem los, schrieb seinem Chef aber alle zwei Wochen einen Brief und berichtete ihm von seinen Erlebnissen. «Nach einigen Monaten, bereits wieder auf der Heimreise im Loiretal, erhielt ich postlagernd einen Brief von Byland, in dem er schrieb, dass er seine Meinung über meine Wanderung revidiert habe», erinnert sich Meier, «wir täten offenbar etwas, das uns guttue. Und, falls noch irgendetwas schiefgehen sollte, würde er uns sogar mit dem Auto abholen kommen. Das war natürlich im Nachhinein eine grosse Genugtuung für mich».
Tag um Tag waren die beiden also unterwegs durch Länder, in denen erst 13 Jahre zuvor der Krieg beendet worden war. Spuren davon, darunter auch den einen oder anderen Blindgänger, und natürlich die Soldatenfriedhöfe beindruckten die jungen Höngger gleichermassen wie Land und Leute. Übernachtet wurde im Zelt. Kamerad Züllig sei damals übrigens vorzeitig heimgekehrt, weil er keinen guten Schlafsack dabei hatte und deshalb, was ihn zermürbte, schlecht schlief. «Ich weiss noch gut», so Meier, «wie Hansruedi eines Tages eine Münze warf und die entschied, dass er sich verabschiedete». Meier, dem das Alleinsein noch nie etwas ausgemacht hatte, zog weiter durch die Lande. «Den Empfang zurück in Höngg hatte der Milchhändler Hofer, unser Nachbar, organisiert. Seine Tochter Marianne und eine Freundin von ihr warteten an der Höngger Grenze mit Blumen und im Dorf ging es dann weiter, wie es damals auch im Höngger beschrieben wurde». Die Jugendfreunde haben übrigens noch heute Kontakt, und bald schon findet wieder ein Klassentreffen statt.
Warum 50 für niemanden ganz 50 sind
Dort wird sicher auch Meiers aktuellste Leistung, der Engadiner, zu reden geben, den er exakt zehn Jahre nach seiner Rückkehr damals zum ersten Mal lief. «Übrigens zusammen mit Ernst Geering vom Grünwald», wie Meier erzählt. Skilanglauf habe er schon aus dem Militär gekannt, aber der Entscheid zur Teilnahme am allerersten Engadiner überhaupt sei ein spontaner gewesen. Mit Respekt und dem letztlich erreichten Ziel, unter vier Stunden zu bleiben, sei er an den Start gegangen. Besseres Material, bessere Loipen und eine bessere Kondition führten später dazu, dass Meier seinen schnellsten Engadiner in zwei Stunden und zwei Minuten lief. Dass er in 50 Jahren nur einen einzigen Engadiner verpasste, war nicht vorgesehen. Einen verpasst? «Ja, 1991», lacht Meier, «aber den haben alle verpasst, weil er nämlich am Vorabend abgesagt wurde. Ich weiss noch, wie ich in der Garage gerade meine Ski’s wachste als eine Nachbarin rief, ich könne aufhören, soeben sei der Engadiner abgesagt worden». Tatsächlich gibt es also niemanden, der den 50. Engadiner mitgemacht hat, denn im Jubiläumsjahr fand eigentlich erst der 49. statt. Der Leistung tut dies keinen Abbruch. Nur neun andere, darunter eine Frau, sind so regelmässig dabei wie Fritz Meier. Sie alle wurden am Vorabend des Jubiläumsjahres im Kempinski St. Moritz bewirtet und geehrt.
Stolz nein, aber Dankbarkeit
Er habe dort und hier viel Gratulationen erhalten, sagt Meier, und oft werde gesagt, er könne stolz sein: «Doch Stolz empfinde ich eigentlich nicht, sondern in erster Linie Dankbarkeit. Dafür, dass ich gesundheitlich so oft Glück hatte». Zum Beispiel nach verschiedenen Operationen, die ihn manchmal fast am Starten hinderten. Doch selbst in Rekonvaleszenz nach einem Herzinfarkt war er wieder rechtzeitig bereit und auf den Latten: «Ich ging vor dem Start noch zum Sportarzt. Der riet mir, in der Hälfte, also bei Pontresina, auszusteigen. Als ich dann dort ankam, fühlte ich mich aber so gut, dass ich einfach weiterlief».
Und in der Folge bis heute. Selbst in seinem 80. Lebensjahr beendete der Höngger Altzunftmeister die Strecke in einer Zeit von 3:47.27 Stunden und damit auf Rang 7535 von 14’200 Teilnehmenden aus 76 Ländern. Das Diplom seiner Marathon-Kategorie «Herren Masters 10» zeichnet ihn mit dem beachtlichen 26. Rang aus. Was soll man da noch sagen? Fritz Meier lacht: «Dass ich mich für den nächsten Engadiner bereits wieder angemeldet habe!». Er brauche immer wieder ein Ziel und der 10. März 2019 sei ein solches, auf das er sich schon wieder freue wie damals als Kind auf Weihnachten.
Von Sinn und Leichtigkeit der Ausdauer
Schon wieder auf den Beinen nach dem Gespräch am Tisch kommt Meier noch ins Sinnieren: «Ich führte und führe noch immer ein relativ genussreiches Leben, esse und trinke gerne. Doch ich hatte jedes Jahr zwei sportliche Ziele, die das unterbrachen: Den Engadiner im Winter und den 100-Kilometer-Lauf im Sommer. Diese sportlichen Ausdauerleistungen haben mich nicht nur aus meiner Komfortzone gelockt, sondern auch sonst meinen Durchhaltewillen im Leben gestärkt». Und so zitiert er zum Abschied den Romanshorner Volksdichter Christoph Sutter: «Durchzuhalten ist nicht schwierig. Man beginne einfach gierig, lasse sich von nirgends stören – und vergesse aufzuhören».
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