«Wir brauchen mehr Wertschätzung»

Was ist Freundlichkeit? Wozu braucht es sie und warum mangelt es so oft daran? Die ehemalige Primarlehrerin und Theologin Monika Bauer gibt Antworten auf die Fragen des «Hönggers».

Kleine Akte der Freundlichkeit können schon viel bewirken, findet die Theologin Monika Bauer. (Foto: Dagmar Schräder)

Er ist bereits seit einigen Wochen Thema im «Höngger»: der Tag der «random acts of kindness» am 17. Februar. Doch was bedeutet eigentlich der Begriff «Freundlichkeit»? Höchste Zeit für eine etwas theoretischere Auseinandersetzung mit dem Thema.
Die ehemalige Primarlehrerin, Theologin sowie Dozentin für Religion, Kultur & Ethik an der pädagogischen Hochschule, die mit ihrer Reaktion auf den «Höngger»-Leitartikel zum Jahreswechsel («Mehr Äpfel für Höngg») die Auseinandersetzung mit dem Thema überhaupt erst ins Rollen brachte, hat sich mit dem «Höngger» zu einer leicht philosophischen Gesprächsrunde getroffen.

Frau Bauer, was bedeutet «Freundlichkeit»?

Ich beschäftige mich gerne mit der Etymologie der Wörter, um zu verstehen, was sie genau bedeuten. Das Wort «freundlich» ist interessanterweise mit dem Wort «frei» verwandt. Freiheit hat etwas mit der Beziehung zu den Nahestehenden zu tun und beinhaltet die Begriffe «schützen und schonen». Frei zu sein bedeutet unter anderem, im «Schutzbereich» derer zu stehen, die einem nahestehen, von diesen geschont und geliebt zu werden. Daraus leitet sich ab, dass auch Freundlichkeit gewissermassen denjenigen zusteht, die einem nahestehen.

Nett ist man also nur zu denjenigen, die zur eigenen Gemeinschaft gehören?

Ja, das kann man so ableiten. Und genau hier knüpft mein Anliegen an: eine Kultur der Freundlichkeit zu schaffen, die sich nicht nur auf die eigene Gruppe bezieht, sondern generell gültig ist. Ich würde mir wünschen, dass wir freundlich sein können, ohne irgendeine Gegenleistung zu erwarten

Also vermissen Sie Freundlichkeit hierzulande?

Ja, ich denke, es mangelt schon ein wenig an Wertschätzung – gegenüber den Mitmenschen ebenso wie gegenüber der Natur. Da könnte sich noch einiges verändern. Gerade zu Beginn der Pandemie hatte ich den Eindruck, es passiere etwas, es gebe eine positive Änderung. Die Leute achteten mehr aufeinander, halfen sich gegenseitig – doch mittlerweile hat sich das eher wieder ins Gegenteil verkehrt.

Woher kommt dieser Mangel an Wertschätzung?

Das ist eine grosse Frage. Eigentlich lässt sich das bis zur Renaissance zurückführen. Das «Ich» hat in unserer westlichen Kultur eine sehr grosse Bedeutung. Renaissance und Aufklärung haben das Individuum gestärkt, was für uns sehr viele Vorteile hat – doch das Gemeinwohl ist mit der Zeit ein wenig vergessen gegangen. Dagegen gibt es andere Kulturen und Sprachgemeinschaften, in denen es gar kein Wort für «Ich» gibt.

Sie sind Theologin. Hat Freundlichkeit etwas mit «Nächstenliebe» zu tun? Oder anders gefragt: brauchen wir mehr Religiosität, um wieder netter zueinander zu sein?

Für mich ist Freundlichkeit tatsächlich ein Ausdruck von Religiosität. Sprich: wer daran glaubt, dass die Menschen das Abbild Gottes sind, kann eigentlich kein Menschenfeind sein und sollte auch der Schöpfung Achtung entgegenbringen.
Umgekehrt ist es aber überhaupt keine Bedingung, einer Religion anzugehören, um den Mitmenschen Wertschätzung entgegenbringen zu können. Auch ein Atheist kann natürlich freundlich zu anderen sein.

Wie schaffen wir es denn konkret, das Gemeinwohl wieder zu stärken?

Ganz salopp ausgedrückt würde es unserer Gesellschaft meiner Meinung nach helfen, wenn wir etwas ärmer wären. Das würde dafür sorgen, etwas weniger egoistisch zu sein. Nur schon am Beispiel Nahrungsmittel sieht man das: heute können wir uns einen extrem verschwenderischen Umgang mit dem Essen leisten – und schätzen überhaupt nicht, wo es herkommt und was es alles braucht, um die Nahrungsmittel zu produzieren. Unser Umgang mit den Ressourcen ist äusserst egoistisch.

Was unternehmen Sie persönlich?

In Bezug auf den Umgang mit unseren Ressourcen versuche ich, möglichst nachhaltig zu leben. Ich bemühe mich darum, möglichst keine Lebensmittel zu verschwenden, sondern alles zu verwenden, was ich im Haus habe. Auch ab und zu mal draussen den Müll aufnehmen, der so rumliegt, ist eine gute Massnahme, um dafür zu sorgen, dass es in der näheren Umgebung etwas schöner ist.
Gegenüber den Menschen bemühe ich mich um eine zugewandte Haltung – selbst gegenüber denjenigen, die zu mir unfreundlich sind. Auch der Faktor Zeit ist wichtig: sich Zeit nehmen für kleine Begegnungen, Anteil nehmen am Leben der Anderen. Das sind oft ganz kleine Momente, die aber dafür sorgen, dass man sich mit den Mitmenschen viel mehr verbunden fühlt. Das Grossartige an den «acts of kindness» ist, dass sie viral sind. Wenn ich etwas Positives erlebe, bin ich viel mehr bereit, selbst etwas Nettes weiterzugeben. So vermehrt sich die Freundlichkeit. Früher hat man sich mit guten Taten den Einzug in den Himmel verdient. Heute würde ich sagen: mit guten Taten lässt sich zum Himmel auf Erden beitragen.
Und noch was: mir ist ein bewusster Umgang mit der Sprache sehr wichtig. Mit Worten kann man so viel ausrichten – verletzen oder heilen. Ich habe es in meiner Tätigkeit als Seelsorgerin des Öfteren erlebt, welch positiven Auswirkungen das richtige Wort zur richtigen Zeit haben kann. Gleichzeitig kann man aber auch mit herablassenden, beleidigenden Äusserungen ganz viel zerstören.

Können Sie uns zum Abschluss noch ein kleines Beispiel für einen «act of kindness» geben? Etwas, das sie besonders beeindruckt hat?

Vor kurzem habe ich etwas Schönes erlebt. Eine meiner Nachbarinnen, eine ältere Dame, hatte gesundheitliche Probleme und musste ins Krankenhaus. Ich habe sie vor ihrem Haus getroffen, wo sie offensichtlich etwas aufgeregt und verwirrt war und nicht wusste, wie sie dorthin kommt. Ich war leider gerade sehr im Stress und habe mir überlegt, wie ich es zeitlich schaffe, sie ins Spital zu begleiten. Da kamen ein paar Männer vom ERZ vorbei, die gerade auf Entsorgungstour waren. Sie boten dieser für sie wildfremden Frau an, sie mit ihrem Wagen ins Spital zu bringen. Auch wenn sich die Dame schlussendlich doch lieber selbst auf den Weg machen wollte, hat mich diese Geste sehr beeindruckt. Ein selbstloser Akt von Hilfsbereitschaft.

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