Wer wird arm und warum?

Das Klischee des faulen Hängematten-Schmarotzers, der Sozialhilfe bezieht, ist noch immer stark in der Gesellschaft verankert und wird gerade wieder in der Diskussion um die Sozialdetektive heraufbeschworen.

Die meisten Menschen, die zu Caritas Zürich in die Beratung kommen, leben knapp über dem Existenzminimum.

Die «wer will, der kann»-Mentalität ist verbreitet, greift jedoch meist nur in sozialen Schichten, die ohnehin schon alles haben. Armut ist nämlich auch vererbbar: Kinder aus armen Verhältnissen haben schlechtere Startbedingungen und ein erhöhtes Risiko, auch im Erwachsenenalter arm zu bleiben. Zu diesem Schluss kam zuletzt eine Bertelsmann-Studie 2017.
Doch wie wird man als Erwachsener plötzlich arm? Oft ist es eine Krankheit oder ein Unfall, der einen aus der Bahn wirft. Ein Jobwechsel oder -verlust kann der Beginn einer Armutsbetroffenheit sein, aber auch die Trennung von einem Ehepartner oder die Geburt eines Kindes. Letzteres liege auch daran, dass Kinder zu haben in der Schweiz immer noch weitgehend Privatsache sei, erklärt Anne-Käthi Thürer, Fachbereich Grundlagenforschung zum Thema Armut bei der Caritas Zürich. Die auswärtige Kinderbetreuung funktioniere je nach Wohnort besser oder weniger gut, dasselbe gelte für subventionierte Plätze. Eltern mit Anstellungen im Tieflohnsektor arbeiten oft in Schicht, das heisst sehr früh morgens, abends oder sogar nachts, nicht selten auch zwei Schichten pro Tag. Diese Zeiten würden von Kinderkrippen und Horten nicht abgedeckt. «Dort spielt das soziale Netzwerk eine wichtige Rolle, das heisst, ob es Verwandte oder Freunde gibt, die bei der Betreuung der Kinder mithelfen können», meint Thürer. Zu den besonders armutsgefährdeten Gruppen gehören Alleinerziehende, Unterhaltspflichtige, Familien mit mehr als drei Kindern, wenig qualifizierte Arbeitnehmende, Migrantinnen und Migranten sowie alleinstehende Personen.

«Es geht um die Existenz»

In der Abteilung Beratung der Caritas Zürich an der Beckenhofstrasse arbeitet Dejan Mikic. An vier halben Tagen in der Woche können die Leute telefonisch, schriftlich oder persönlich eine kostenlose Kurzberatung in Anspruch nehmen. Für das weiterführende Beratungsangebot kennt die Caritas klare Richtlinien. Es richtet sich grundsätzlich an Personen, die keine Sozialhilfe beziehen. Dennoch lässt man andere Hilfesuchende nicht im Regen stehen, sondern vermittelt sie an die entsprechenden Behörden, Organisationen oder eigene Fachbereiche weiter. «In den Gesprächen der Kurzberatung, die meist 15 bis 20 Minuten dauern, klären wir ab, aus welchem Grund sich die Person bei uns meldet und wie wir konkret behilflich sein können», erklärt Mikic. Rund ein Drittel (36% im 2017) der Kontaktaufnahmen in der Kurzberatung betreffen Schuldenfragen, bei einem Viertel (24% im 2017) der Anfragen geht es um ein zu geringes Einkommen. Weitere Themen sind Migration, Erwerbslosigkeit, Gesundheit, Bildung und Wohnen. Die meisten Menschen, die zu Caritas Zürich in die Beratung kommen, leben knapp über dem Existenzminimum. «Bei einem grossen Teil unserer Klienten geht es um existenzielle Ängste, die oft auch mit ihrer Migrationsgeschichte verbunden sind», erzählt Mikic. Im Alltag dieser Menschen drehe sich alles darum, sicher und unabhängig ihr Leben führen zu können, andere Themen wie Bildung und Gesundheit rückten in den Hintergrund. «In diesen Fällen prüfen wir, wie wir ihre gesamtfamiliäre Lage verbessern können».

Situation nachhaltig verbessern

Ein wichtiger Punkt ist die Verbesserung der beruflichen Qualifikationen», meint Mikic. «Wir unterstützen beispielsweise Frauen, die eine SRK Pflegeausbildung machen möchten, um in Pflege- und Altersheimen arbeiten zu können». Manchmal sei es auch ein Teufelskreis: Denn gerade Menschen mit Migrationshintergrund, die noch nicht lange in der Schweiz leben, bemühen sich um bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt, damit sie nicht mehr von der Sozialhilfe abhängig sind. Doch mit den Jobs, die sie dann effektiv erhalten, generieren sie ein Einkommen, das zum Überleben nicht reicht. Am Ende landen viele dann trotz aller Bemühungen dennoch wieder bei der Sozialhilfe. Finanzielle Existenzsicherung in Notlagen ist Aufgabe des Staates. Solche Lücken zu füllen, das kann und will die Caritas Zürich nicht leisten. Stattdessen bietet sie Menschen, die knapp am Existenzminimum leben, Entlastung, indem sie beispielsweise im Rahmen von Themenpatenschaften die Kosten für Freizeit- und Förderangebote für Kinder übernimmt. Oder sie ermöglicht Erwachsenen Bildungsangebote wie Sprachkurse. Hierfür arbeitet sie auch eng mit verschiedenen Stiftungen und Fonds zusammen. «Bei unerwarteten extremen Engpässen leisten wir nach umfassender Abklärung natürlich punktuell finanzielle Hilfe», meint Mikic. «Aber längerfristig ist es in unserem Interesse, die Situation nachhaltig zu verbessern. Es geht ja auch um eine Befähigung der betroffenen Personen».

Die Schere geht weiter auf

Die Caritas engagiert sich auch politisch und organisiert einmal im Jahr ein Forum zum Thema Armut. Dazu erheben sie die Grundlagen zu den aktuellen sozialpolitischen Fragen im Kanton. «Die Themen Wohnen und Wohnkosten sind zum Beispiel sehr zentral, wenn es hierzulande um Armut geht», erzählt Thürer. «Ein Beispiel: Im Sommer wird die Stadt Zürich die Mietzinsrichtlinien für Sozialhilfebeziehende dem aktuellen Markt anpassen und die Obergrenze für die Wohnkosten erhöhen. Für die betroffenen Sozialhilfebeziehenden sind das gute Neuigkeiten, für unsere Klienten macht das insofern keinen Unterschied, da sie nicht bei der Sozialhilfe sind. Aber: Voraussichtlich werden viele Vermieter von sehr günstigem Wohnraum auf die Erhöhung reagieren und ihre Mieten entsprechend nach oben korrigieren. Dadurch wird es für Menschen, die ohne Sozialhilfe am Existenzminimum leben, noch schwieriger, eine bezahlbare Wohnung zu finden». Obwohl die Schweizer Armutszahlen in den letzten Jahren ungefähr gleichgeblieben sind, befürchtet die Fachfrau, dass die Schere in Zukunft noch weiter aufgehen wird. «Mit der Digitalisierung wird es immer schwieriger für Personen mit geringer oder fehlender Berufsausbildung, eine Anstellung zu finden. Die Situation auf dem Arbeitsmarkt wird sich für sie deshalb vermutlich noch verschärfen».

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