Was will der eigentlich von mir?

Unsere Redaktorin Dagmar Schräder schreibt über die grossen und kleinen Dinge des Lebens. Heute über einen Unbekannten, der unser aller Leben diktiert.

Dagmar Schräder bringt ihre Gedanken aufs Papier. (Foto: dad)

Ich weiss nicht, aber je älter ich werde, desto mehr geht er mir auf den Keks. Desto weniger habe ich Lust, mir von ihm vorschreiben zu lassen, wie ich zu leben, was ich zu tun und was zu lassen habe. Ich meine, ich bin eine erwachsene Frau, sogar schon ganz leicht aus dem allerfrischesten Lebensalter raus. Ich habe also schon ein wenig Lebenserfahrung gesammelt. Und bin fähig, selbst zu denken, glaube ich zumindest. Und trotzdem versucht er’s immer wieder. Manchmal ganz explizit, manchmal aber manipuliert er mich perfide nur in meinem Kopf.

Um wen es sich dabei handelt? Es geht um «man». Wer das genau ist, weiss ich nicht. Ist er überhaupt ein Mann? Ich habe keinen Schimmer. Ich weiss nur, dass alle über ihn sprechen. Oft wird er zum Beispiel erwähnt, wenn Eltern mit ihren Kindern diskutieren. «Man schreit nicht im Bus» oder «Man sagt Bitte» oder «man wäscht sich vor dem Essen die Hände». Toller Typ, der «man». Scheint gar nie irgendetwas falsch zu machen. Ein bisschen anstrengend ist das aber schon. Vor allem, weil er nicht nur selbst so unfehlbar ist, sondern erwartet wird, dass alle sich so verhalten, wie er es tut.

Unbestritten, er macht viele Dinge, die sinnvoll und für ein harmonisches Zusammenleben wichtig sind. Aber das würde ich auch tun, ohne dass er ständig erwähnt wird. Aus freiem Willen. Und nicht nur, weil dieser Tausendsassa es so macht. Doch über manche Dinge, die er so tut, will ich zuerst nachdenken, bevor ich sie selbst ausführe. Und manchmal, da möchte ich ganz bewusst das tun, was er nicht will. Dann verunsichert er mich mit seinen Vorgaben. Wenn ich mir zum Beispiel anhören muss, dass «man» sich auf eine bestimmte Art kleidet. Und ich aber etwas anderes schön finde.

Ausserdem ist er gar nicht so perfekt. Heute ist das vielleicht etwas besser als auch schon, aber früher, da hat er enorm viel Mist gebaut. Und bis seine Fehler aufgeflogen sind, hat es oft Ewigkeiten gedauert. Ein kleines Beispiel: die Kindererziehung. «Man sollte frechen Kindern den Mund mit Seife auswaschen» oder «Man spricht nur, wenn man gefragt wird», hiess es da. Als ich geboren wurde, da hat er den Müttern eingeredet, dass «man» (und nicht mal «frau») nur alle vier Stunden stillen sollte. Im Krankenhaus, nach der Geburt, wurden die Babys eingesammelt, in einem Säuglingszimmer ins Bett gelegt und den Müttern alle vier Stunden zur Mahlzeit gebracht. Nicht früher und nicht später. Egal, wie sehr die Babys schrien. Gegen jedes Muttergefühl.

Doch ich will ja nicht so sein: «Man» kann sich ja auch mal irren. Ist nur schwer, sich dagegen zu behaupten. Das hat schon Goethe wunderbar erkannt: «Mit den Irrtümern der Zeit ist schwer sich abzufinden: widerstrebt man ihnen, so steht man allein; lässt man sich davon befangen, so hat man auch weder Freude noch Ehre davon.» Und genau deswegen bin ich so allergisch darauf, zu tun, was «man» so macht.

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