Ein Höngger-Mord erschütterte die Schweiz

Vor bald 13 Jahren erschoss ein damals 21-jähriger Rekrut eine 16-jährige Coiffeur Lehrtochter an der Bushaltestelle Hönggerberg.

An dieser Bushaltestelle wurde die junge Frau ermordet.
Von hier aus erschoss der Schütze das Mädchen.
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«È morta, è morta! Perché ha dovuto morire?» – Wieso nur musste sie sterben? Francescas Mutter ist aufgelöst, ihr Gesicht wie versteinert. Vater Antonio steht neben seiner weinenden Frau am Grab der toten Tochter. «Mia figlia, mia figlia», flüstert sie immer wieder. Ihr einziges Kind wurde von einem psychisch gestörten Rekruten brutal aus dem Leben gerissen. 800 Trauergäste sind zu Francescas Beerdigung auf den Friedhof Eichbühl in Altstetten erschienen. Kränze und Blumengebinde zieren ihre letzte Ruhestätte. Weisse Blumen, ein einfaches weisses Holzkreuz. Familie, Freunde, Bekannte – sie alle wollen Abschied nehmen von Francesca.

Am 23. November 2007, um 22.20 Uhr nahm das kurze Leben der 16-Jährigen ein tragisches Ende. Die Lehrtochter mit italienischen Wurzeln wurde vom 21-jährigen Luis W. auf dem Hönggerberg erschossen. Francescas Freund Alex sass neben ihr auf der Bank, als sie von einer einzigen Kugel tödlich getroffen wurde. Jede Hilfe kam für sie zu spät, die Jugendliche starb noch am Tatort. Francesca absolvierte ihre Coiffeur-Lehre in Oerlikon, sie war im zweiten Lehrjahr. Die junge Frau wollte schon seit ihrer Kindheit Coiffeuse werden – sie liebte schöne Frisuren und Stylings. In ihrem Beruf war sie beliebt und erfolgreich, der Betrieb hielt grosse Stücke auf sie.

Aggressiv und gewaltbereit

Luis W.s Lebenslauf könnte nicht unterschiedlicher sein. Der gebürtige Chilene wurde von einem Schweizer Paar adoptiert und wuchs in einem gutbürgerlichen Elternhaus in der Gemeinde Islisberg im Kanton Aargau auf. Nachbarn beschrieben den jungen Mann als aggressiv und verhaltensauffällig. Er soll sich früher längere Zeit in der Zürcher Punkerszene am Stadelhoferplatz und am See aufgehalten haben. Er hatte keine Ausbildung absolviert und hielt sich mit Gelegenheitsjobs bei einer Sicherheitsfirma und in einem Callcenter über Wasser.

Der 21-jährige hatte schon einiges auf dem Kerbholz – während des Weltwirtschaftsforums Ende Januar 2006 explodierte in Zürich ein Molotow-Cocktail im Eingangsbereich der Wirtschaftsförderung Osec an der Stampfenbachstrasse im Kreis 6. Luis W., ein militanter WEF-Gegner, war an dieser Aktion beteiligt. Nur durch Zufall kamen dabei keine Personen zu Schaden. In seiner Freizeit spielte der Soldat Computerspiele mit menschenverachtendem Inhalt. Die Polizei entdeckte in seiner Wohnung diverse Killer- und Kriegsspiele. Während der Rekrutenschule legte er eine Pause ein. Er war in der Artillerie- Rekrutenschule in Bière im Waadtland und die letzten fünf Wochen im Oberwallis. In der RS war der junge Mann jedoch nicht negativ aufgefallen.

Zur falschen Zeit am falschen Ort

Am 23. November 2007, jenem tragischen Tag, begann Francesca ihre Arbeit im Coiffeur-Salon morgens um neun. Sie füllte Shampoos und Conditioner auf, bereitete Handtücher vor, begrüsste Kunden, wusch Haare und schaute beim Schneiden und Föhnen zu. Mittags traf sie ihre Freunde, ass etwas Kleines, rauchte Zigaretten. Nach der Arbeit wollte Francesca eigentlich direkt nach Hause, doch ihr Freund Alex rief sie vorher noch an. Die beiden planten, noch auszugehen und verabredeten sich am kalten, regnerischen Novemberabend an der 80er-Haltestelle Hönggerberg und warteten auf den Bus.

Luis W. befand sich an diesem Abend auf dem Rückweg vom Oberwallis nach Zürich. Gegen halb sieben stieg er in den Zug ein, die Reise nach Zürich dauerte zirka drei Stunden. Vom Hauptbahnhof aus nahm er das Tram Nummer 13 und stieg am Meierhofplatz auf den 80er-Bus Richtung Oerlikon um. Beim Hönggerberg stieg er aus und machte sich zu Fuss zu seinem Zimmer unweit der Bushaltestelle, wo er als Wochenendaufenthalter lebte. Dann geschah das Unfassbare. Er holte eine Gewehrpatrone, die er Wochen zuvor gestohlen hat, lud sein Sturmgewehr und ging zur 400 Meter entfernten grossen ETH-Hinweis-Tafel. Dort brachte er sich in Stellung und nahm sein Opfer ins Visier.

Nur 80 Meter von Luis W. entfernt sassen Francesca und Alex an der Bushaltestelle. Die beiden waren glücklich, sie freuten sich auf die bevorstehende Geburtstagsparty von Francescas Vater. Dann drückte Luis W. ab. Ein einziger, präziser Schuss traf Francesca in den Oberkörper, sie starb nach wenigen Minuten. Ihr Freund schrie. Alles war voller Blut. Doch für das Mädchen kam jede Hilfe zu spät. Der Heckenschütze begab sich nach Hause, wo er die Waffe reinigte und seine Uniform auszog.

Zwei Tage nach seiner Tat wurde Luis W. von der Polizei gefasst. Er war aufgefallen, weil er als Schaulustiger kurz nach der Tat zurück an den Tatort kam. Ein Motiv konnte der junge Mann weder in der Untersuchung noch vor Gericht nennen: «Ich weiss es nicht, ich kann es nicht erklären», antwortete er auf die Frage des Richters, warum er die grausame Tat begangen hatte. Das Obergericht verurteilte ihn im August 2009 wegen Mordes zu einer Freiheitsstrafe von 17 Jahren, aufgeschoben zugunsten einer stationären Massnahme in einer geschlossenen Einrichtung. Das psychiatrische Gutachten attestierte dem Angeklagten eine schwere dissoziale und narzisstische Persönlichkeitsstörung. Luis W. muss eine langjährige Therapie machen. Der Gerichtspsychiater schätzte ihre Dauer auf acht bis zwölf Jahre.

Politische Konsequenzen

Der tragische Fall zog weitreichende politische Folgen nach sich. Er entfachte die Diskussionen über Waffengewalt und darüber, ob die Sicherheit im Militär ungenügend sei. Der tödliche Schuss gab der jahrelangen Diskussion um die Abgabe der Ordonnanzwaffe an Armeeangehörige und des Aufbewahrens zu Hause wieder Aufwind. Die Initiative «Für den Schutz vor Waffengewalt» der damaligen SP-Nationalräte Chantal Galladé und Daniel Jositsch, welche die Aufbewahrung der Militärwaffe im Zeughaus zum Ziel hatte, bekam dadurch neuen Zuspruch. 2011 wurde sie jedoch mit einer knappen Mehrheit von 56.3 Prozent abgelehnt. Während linke Parteien wie die SP oder die Grünen die Initiative unterstützten, waren die bürgerlichen Parteien dagegen.

Im Weiteren führte das Militär seit 2011 flächendeckende Sicherheitsprüfungen für alle angehenden Rekruten ein, so genannte Personensicherheitsprüfungen. Junge Schweizer, die wegen eines Verbrechens verurteilt wurden, sollen künftig keine Rekrutenschule mehr absolvieren. So wurden im Jahr 2018 knapp 400 Stellungspflichtige als zu gefährlich erachtet und vom Militärdienst ausgeschlossen.

Die Serie «Tatort Kreis 10» befasst sich mit Verbrechen oder Unfällen, die sich in Wipkingen und Höngg ereignet haben. Die Redaktion ist offen für Hinweise auf weitere Fälle im Kreis 10 aus der Bevölkerung auf redaktion@hoengger.ch

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