Quartierleben
So erlebten Höngger ihre Kindheit im Zweiten Weltkrieg
Um den Zweiten Weltkrieg, der vom 1. September 1939 bis 8. Mai 1945 dauerte, seine Folgen und um die ganz persönlichen Erlebnisse von vier Hönggern ging es am Aktivia-Podiumsgespräch «Wir sind Zeitzeugen» in der Pfarrei Heilig Geist.
8. Oktober 2014 — Redaktion Höngger
Im gut gefüllten Pfarreisaal sassen kürzlich ältere Frauen und Männer, die dem von Pius Dietschy (70), sonst Organist in der katholischen Kirche Höngg, moderierten Gespräch zuhören wollten. Er stellte die vier Zeitzeugen Lou Buschor (80) aus Westdeutschland, Rosmarie Bamert (81) aus Ostdeutschland, Martha Oegerli (83) aus Aarau und Paul Ott (81) aus Zürich vor. Alle wohnen seit vielen Jahren in Höngg, wuchsen aber in den genannten Regionen auf. Sie waren zu Beginn des Zweiten Weltkrieges zwischen fünf und acht Jahre alt.
«Wir spürten, dass irgendetwas im Tun war»
Rosmarie Bamert wuchs im damaligen Oberschlesien auf einem Gut mit rund 100 Angestellten auf, welches ihr Vater verwaltete. 1939 wussten die Kinder nichts von der drohenden Gefahr. Rosmarie Bamert erzählt, dass sie und ihre Geschwister von den Eltern mit diesen Neuigkeiten verschont wurden. «Wir waren aber fünf neugierige Kinder und spürten die Gefahr, welche im September 1939 drohte. Unser Vater wurde zur Sturmwehr eingezogen, das war die erste Katastrophe. Sogar 16-Jährige wurden rekrutiert», erinnert sie sich.
Martha Oegerli, welche in der «Garnisonsstadt Aarau» aufwuchs, in welcher das Militär schon fast regiert habe, sagte, eine Ahnung über die Kriegsgefahr habe man gehabt, doch sei die Freude über die «Landi», die Landesausstellung 1939, viel grösser als die Sorge über einen drohenden Krieg gewesen. Die ganze Schweiz sei im Landi-Fieber gewesen. «Vier Monate später jedoch brach der Krieg aus, es war, als zöge die Nacht über das Land, es war eine ganz dumpfe, unheilvolle Stimmung.» Die Soldaten mussten einrücken, die Männerarbeiten wurden fortan von Frauen erledigt. Eine harte Zeit für sie, härter als sonst schon.
«Eltern lernten Spanisch und übten Mandoline»
Paul Ott war kurz vor Kriegsausbruch im Kindergarten und spürte durch das Verhalten seiner Eltern, dass etwas seltsam war: «Sie besuchten 1938 einen Spanischkurs und lernten Mandoline spielen, denn sie wollten nach Ecuador auswandern. Meine Mutter sagte meinem Vater jedoch klar, dass sie bei dieser Sache erst mitmachen würde, wenn «dä Päuli vieri worde isch». Wir wanderten nie aus, dafür lagerte mein Vater im Gang in grossen Blechkisten Linsen, Mais, Gerste und Tee, und sein Spruch war «Hitler wird kommen». Vater war ein Nazigegner, unsere Hausabwartin jedoch Deutsche und ihr Mann Italiener – so behielt mein Vater seine Meinung für sich, denn sonst hätte er auf der schwarzen Liste gestanden. Hungern mussten wir dank Vaters Vorräten später in den Rationierungszeiten nie.» Paul Otts Vater wurde nicht eingezogen – er habe Plattfüsse und sei deshalb untauglich, sagte er den Zuständigen – dabei war er schlicht und einfach Pazifist.
So fing es an
In Deutschland darbte das Volk nach dem Ersten Weltkrieg, der von 1914 bis 1918 dauerte. Legendär ist das Bild der Krise in Deutschland: Mit einem Leiterwägelchen voller deutscher Mark erhielt man gerade mal einen Laib Brot. «Die Siegermächte Frankreich und England verhielten sich dem Verlierer Deutschland gegenüber sehr arrogant. Dann kam Hitler. Er versprach, den Hunger zu besiegen, für Arbeit zu sorgen und das gedemütigte Volk wieder stark zu machen – er stiess auf offene Ohren», erklärte Pius Dietschy. Schon früh habe Hitler ausserdem von einer jüdischen Weltverschwörung geredet, die es gelte, zu entmachten.
Am 1. September 1939 griff laut deutscher Propaganda Polen Deutschland an – an den Radios vermeldete Hitler damals «Seit 05.45 Uhr wird zurückgeschossen». Das war der Zeitpunkt, als Lou Buschors Mutter in Westdeutschland die Schokolade aus dem verschlossenen Schrank holte, jedem Kind eine Reihe der Tafel anstatt nur ein Stück gab und sagte: «Mein Gott, Kinder, es gibt Krieg!». Der Satz, den sie als Fünfjährige hörte, klingt Lou Buschor heute noch in den Ohren. Sie und ihre Geschwister wurden in die Hitlerjugend eingezogen, wo man viel Sport treiben musste: «Wir wurden in den Fluss geworfen und mussten so schwimmen lernen. Wer nicht ertrinken wollte, der lernte es ganz schnell…»
Kinder waren zuerst nicht fest vom Krieg tangiert
Waren die Kinder anfänglich vom Krieg nicht allzu sehr berührt, so änderte sich das später drastisch, als sich das Kriegsglück von Deutschland auf die Seite der Alliierten zu neigen begann. Als Reaktion auf Stalingrad, die vernichtende Niederlage der deutschen Wehrmacht im Januar 1943 in der russischen Stadt Stalingrad, sei das Gold des Volkes eingesammelt worden. Ausserdem mussten in einer Aktion Socken für die deutschen Soldaten gestrickt werden: «Jeder durfte nur eine Decke behalten, alles andere mussten wir ans Militär abtreten», so Lou Buschor.
In den nächsten Monaten und Jahren wurden Schulen zu Kasernen, später zu Lazaretten. Schulunterricht wurde in den Ruheräumen von Fabriken gegeben, Angst herrschte. «Die Jabos, also englische Jagdbomber, flogen durch die Strassen, und pro Nacht mussten wir bis zu fünfmal in den dunklen Keller. Wenn wir nach der Schule vom Unterricht nach Hause liefen, mussten wir aufpassen, nicht in einen Bombenhagel zu geraten. Indem wir unsere Theks an die Köpfe hielten, schützten wir uns, wenn Pflastersteine bei Fliegerangriffen durch die Luft flogen». Sterbende und Tote seien auf den Strassen zu sehen gewesen, «Fuhren von Schwerverletzten» habe der Pfarrer gesegnet – das war nach den Luftangriffen der Engländer 1942/43. Als Hitler Russland verriet, indem er Stalingrad angriff – er hatte mit Russland gegenseitigen Waffenstillstand vereinbart – kamen die russischen Militärs nach Deutschland.
Die Mutter vor Russen beschützt
Nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion 1941 trat Russland in den Krieg gegen Deutschland ein. Rosmarie Bamert weiss noch genau, wie der erste Russe der Roten Armee, ein mächtiger Kosake, in ihr Haus auf dem Gut eindrang, der Mutter die Lederstiefel abnahm und alles mitnahm, was er brauchen konnte. «Wir durften auf seine Anordnung hin die Haustüre nicht mehr abschliessen. Die Russen waren zudem auf die Frauen aus, auch auf unsere Mutter. Aus Angst vor Vergewaltigungen rollten wir sie jeden Abend in einen Teppich ein und schoben diesen unter unsere Sitzbank am Esstisch. Auf der Bank schliefen wir fünf Geschwister aneinandergekuschelt und wachten über unsere Mutter.» Ein Russe verlangte von der Mutter, dass sie ihm einen Knopf auf seiner Kleidung annähen müsse und dabei aber auf seinem Schoss Platz nehme. ˂Kind, lass mich nicht allein˃, flehte meine Mutter mich an. Ich blieb bei ihr, wer weiss, was sonst mit ihr geschehen wäre», so die damals etwa neunjährige Rosmarie Bamert.
Später wurde ihr Haus von Russen angezündet, und drei Jahre lang schlief die Familie im Stroh des Gutes, dann war die Familie drei Monate lang auf beschwerlicher und gefährlicher Flucht. Die Mutter wurde deswegen dann zwangsverurteilt und musste in einer von Russen übernommenen Stiefelfabrik schuften, die Kinder sollten auf verschiedene Pflegeeltern aufgeteilt werden. Da dies die Mutter stark belastete, wagte sie einen erneuten Fluchtversuch: Mit dem Zug, der ihre Kinder wegbringen sollte, liess sie sich vom Lokomotivführer mitnehmen: «Sie hatte auf dem Gut im Garten ein Sterilisierglas mit allem Schmuck vergraben und dieses auf unsere erste Flucht mitgenommen. Das Glas mit dem Schmuck gab sie dem Lokomotivführer als Bezahlung fürs heimliche Mitnehmen. Er vergrub Mutter im Kohlewagen, wo sie durch eine Zementröhre Luft erhielt.»
Mit einem Evakuierungstransport gelangte die Familie von Rosmarie Bamert dann nach Bremen. Hier kam die ganze Familie nach dem Krieg endlich wieder zusammen. «Mein Vater hatte einen doppelten Lungenschuss bekommen, den er tatsächlich überlebt hatte. Er war in russischer Kriegsgefangenschaft gewesen. Als er bei uns in Bremen ankam, erkannten wir ihn nicht wieder», so Rosmarie Bamert auch Jahrzehnte später noch mit Tränen in den Augen.
Lieber Flieger angeschaut als im Keller gewartet
In Aarau lernte Martha Oegerli während der Kriegsjahre, leise zu sein, wenn die Nachrichten am Radio gesendet wurden. «Die Rationierung ging ans Lebendige. Wir konnten immer weniger Essen kaufen, Kleider und Schuhe erhielt man nur mit Marken. Auch wurden die Wälder von Leuten abgeholzt, die eine Holzheizung hatten.»
Paul Ott, mittlerweile in Wiedikon in der ersten Klasse, hatte keinen Turnunterricht mehr: «Das Militär brauchte unsere Turnhalle. Wenn es mir Spass machte, spazierte ich vor den defilierenden Militärs jeweils durch und trommelte auf meiner Blechtrommel. Wenn es einen Fliegeralarm gab, mussten wir in den Luftschutzkeller, unseren normalen Keller, der mit Holzpfosten verstärkt worden war. Ich wäre aber lieber rausgegangen und hätte die Flieger angeschaut, was mir die Eltern aber wohlweislich verboten.» Bei der Verdunkelung sei jeweils kontrolliert worden, ob man die Wolldecken dicht genug in alle Ritzen geschoben habe. Wenn das bei jemandem nicht der Fall gewesen sei, so sei man verwarnt worden. «Hunger musste meine Familie aber dank Vaters Vorratshaltung in den Blechkisten nie leiden – ich erinnere mich, dass es oft Maiskuchen gab», so Paul Ott.
Haus an der Limmattalstrasse bombardiert
Das Gas sei rationiert worden, und am 22. Dezember 1940 wurde gar Höngg von Bomben getroffen: an der Limmattalstrasse 23 wurde ein Haus von Engländern bombardiert. «Der Höngger» berichtete damals, dass «das Haus der Eheleute Gottfried Meier-Mötteli von einer englischen Fliegerbombe buchstäblich in einen Trümmerhaufen verwandelt» wurde. Eine Person wurde beim Einsturz getötet, vier verletzt. Liegenschaften an der Ackersteinstrasse wurden durch Brandbomben ebenfalls beschädigt. «Der 22. Dezember 1940 bleibt ein schwarzer Tag in der Lokalgeschichte von Höngg», schliesst der Bericht. «Für die Zürcher war die Bombardierung ein Ereignis. Auch ich reiste mit meiner Familie nach Höngg, um die Trümmer anzuschauen, es war sozusagen ein Sonntagsausflug», so Paul Ott.
Wohnung wurde konfisziert
Lou Buschor aus Westdeutschland erzählte, dass 1943 Massenbombardierungen in ihrer Gegend stattgefunden haben. «Ein Staudamm wurde gesprengt, was eine riesige Flutwelle gab, in der 3000 Menschen starben. Grosser Hunger regierte. Ich weiss noch, wie es hiess, es seien ein paar Pferde geschlachtet worden. Mutter schickte mich zum Schlachthof, doch ich war die Letzte, und alles war schon weg, ausser dem Skelett eines Pferdekopfes. So nahm ich halt diesen mit, was blieb mir anderes übrig? Meine Mutter kochte ihn eine Woche in einem Sterilisierkessel aus, und wir mussten die Suppe trinken, weil sie uns stärken würde, wie sie sagte.»
Schlimm sei auch gewesen, wenn Bunker ausgeräumt werden mussten, nachdem die Menschen darin durch den Luftdruck gestorben seien. Die Leichen seien dann einfach auf der Strasse deponiert worden, bereit zum Abtransport. «Auch das Spital wurde bombardiert. Joseph Goebbels sagte in seiner berühmten Sportpalastrede vom 18. Februar 1943, es herrsche ab sofort der ˂totale Krieg˃. Unsere Wohnung wurde vom Militär konfisziert, wir durften nur noch das Schlafzimmer benutzen.» Bombenteppiche mit Brand- und Sprengbomben waren 1944 und 1945 schrecklicher Alltag für das zehn- beziehungsweise elfjährige Mädchen.
Ende des Krieges
Im September 1944 rekrutierte Hitler aus Verzweiflung alle waffenfähigen Männer im Alter von 16 bis 60 Jahren, im Dezember fanden die letzten militärischen Abwehrbemühungen Deutschlands statt. 1945 gab es intensive Luftschläge der Alliierten, welche sogenannte Terrorbombardierungen deutscher Städte wie Dresden bei Tag und Nacht durchführten. Am 28. April 1945 kapitulierten die deutschen Streitkräfte in Italien, am 30. April beging Hitler Selbstmord. Am 7. und 8. Mai erfolgte die bedingungslose Kapitulation Deutschlands.
«Kritisches Denken ist unerlässlich»
Wichtig sei, zu erkennen, dass Menschen verführbar seien: «Kritisches Denken ist unerlässlich, das gilt immer und gerade auch in der heutigen Zeit», so der Moderator. «Das war ein schwerer Nachmittag, und nun gehen wir trotzdem zu Kaffee und Kuchen über – das mag etwas salopp wirken, aber das Leben geht weiter, und der Zweite Weltkrieg ist glücklicherweise Geschichte. Egal wo und wie Krieg tobt, er ist immer grässlich und himmeltraurig.» Nachdenklich trank man seinen Kaffee, biss in sein Kuchenstück und war froh, dass man in den Wirren der Weltgeschichte nicht untergegangen war. «Es hat Mut gebraucht, diese sehr persönlichen Erlebnisse zu erzählen, ich konnte letzte Nacht deswegen nicht schlafen, aber es hat auch gut getan, meine Erinnerungen mitzuteilen», so der Tenor der beeindruckenden vier Menschen, die diesen berührenden, nachdenklich stimmenden Nachmittag erst möglich gemacht hatten.
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