Dagmar schreibt
Sie hat ja recht
Unsere Redaktorin Dagmar Schräder schreibt über die grossen und kleinen Dinge des Lebens. Heute darüber, wie es ist, seinen eigenen Vorsätzen nicht gerecht zu werden.
1. September 2024 — Dagmar Schräder
Ja, das mit der Solidarität unter uns Menschen. Das ist ein Thema, das mich beschäftigt. Hatte ich hier auch schon mal angesprochen. Hatte damals bemängelt, dass man den Mitmenschen nicht einfach ihr Leben leben lassen kann. Statt Toleranz herrschen Neid, Missgunst und ewige Vergleiche untereinander. Hatte ich gesagt und einen leicht moralingetränkten Text geschrieben.
Aber manchmal holt mich halt die Realität ein. Und dann gehen mir die Mitmenschen doch auf den Keks. Einfach, weil sie irgendetwas tun, das mir nicht passt. Manchmal brauchts da ja gar nicht viel. Vielleicht geben sie im Gespräch eine unbedachte Äusserung von sich, machen einen dummen Witz, der mir in den falschen Hals gerät, reden zu viel oder zu wenig oder was weiss ich. An besonders intoleranten Tagen reicht schon ein falsches Kleidungsstück oder ein lauter Husten, um mich zu nerven.
Und all diese Erfahrungen muss man dann irgendwie verarbeiten. Das tue ich dann halt auch schon mal, indem ich mich mit anderen darüber unterhalte. Als Psychohygiene. Könnte man allerdings auch als Tratschen bezeichnen. Ich weiss, eigentlich wäre es korrekter und anständiger, sich direkt an die Betroffenen zu wenden und der Person mitzuteilen, was mich so stört. Meistens weiss sie ja gar nicht, was sie bei mir ausgelöst hat. Aber das ist Theorie. In der Realität gehe ich dann zu der nächstbesten vertrauten Person und klage ihr mein Leid.
Letztens hat es meine Tochter erwischt. Bin zu ihr, nachdem ich erfahren hatte, dass jemand es gewagt hatte, sich ein neues Auto zu kaufen. Obwohl er schon eins hatte. Fand ich übertrieben, unökologisch und komplett nervig.
«Weisst du, was der gemacht hat?», begann ich das Gespräch. «Das muss doch nicht sein, verwöhntes Luxusgeschöpf, blablaba», führte ich meinen Sermon echauffiert fort, begierig, gemeinsam mit ihr abzulästern.Wenn der andere sich schon so etwas erlaubte, dann sollte ich wenigstens das Vergnügen haben, mich mit meiner Tochter gegen ihn zu verbünden. Dachte ich. Aber Pustekuchen. Da war nix zu holen.
«Mensch, Mama», sagte sie. «Hör auf zu mobben. You do you.» Erst war ich ein bisschen beleidigt. Hatte meine Tochter mir damit doch glatt die Solidarität verweigert. Mir, ihrer wunderbaren Mutter. Und dann noch mit diesem in meinen Ohren grammatikalisch fragwürdigen Satz: «You do you.» Musste ich erst googeln.
«Tu, was du für richtig hältst, was für dich stimmt», will mir das sagen. Oder auch: «Kümmere dich um deinen eigenen Kram und lass die anderen in Ruhe.» Toleranz in Neusprech.
Sie hat ja recht. Vielleicht bin ich einfach zu alt. Und doch nicht so aufgeschlossen, wie ich dachte. Zum Glück scheint es aber die nächste Generation nicht mehr nötig zu haben, über andere herzuziehen. Wär schön – oder schön wär’s?
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