Dagmar schreibt
Respekt, Alter!
Unsere Redaktorin Dagmar Schräder schreibt über die grossen und kleinen Dinge des Lebens. Heute macht sie sich mal wieder «wertvolle» Gedanken.
3. Januar 2025 — Dagmar Schräder
So, pünktlich zum Jahreswechsel bin ich in mich gegangen. Ich habe nachgedacht. Über das, was unsere Gesellschaft zusammenhält. Ja, okay, das klingt jetzt vielleicht ein bisschen grossspurig. Konkret habe ich – wie schon des Öfteren – über den Begriff der Toleranz nachgedacht. Denn ich halte sie für einen wichtigen gesellschaftlichen Wert. Und sie ist eine der Eigenschaften, mit der wir uns alle gerne schmücken. Wenn uns jemand fragt, ob wir tolerant sind, antworten wir wahrscheinlich alle mit Ja – natürlich innerhalb gewisser Grenzen.
Aber genau dazu hab ich in letzter Zeit ein paar erstaunliche Beobachtungen gemacht. Denn offenbar ist die individuelle Toleranzschwelle im Laufe des Lebens ziemlich flexibel verschiebbar. Und Dinge, die man früher gut ertragen hat, bringen einen plötzlich auf die Palme. Denn es ist sehr viel einfacher, Verständnis für Menschen aufzubringen, die in ähnlichen Lebenssituationen sind, als für diejenigen, deren Lebensweise man nicht so gut nachvollziehen kann.
Darüber hinwegsehen?
Ein Beispiel: Wenn ich zu den jungen Eltern gehöre, dann gehören für mich quengelnde Kinder, Geschrei und Streitereien zum Alltag. Und wenn ich in dieser Lebensphase im Bus andere Eltern treffe, deren Kinder sich nicht angemessen verhalten, kann ich grosszügig drüber hinwegsehen, milde lächeln und mir selber für mein tolerantes Verhalten auf die Schulter klopfen.
Wenn nun aber die eigenen Kleinen schon aus dem Gröbsten heraus sind und der frühe Sonntagmorgen die Tageszeit ist, zu der man mit 100-prozentiger Sicherheit davon ausgehen kann, dass von ihnen nichts zu hören ist, dann ist es mit dem Grossmut nicht mehr ganz so weit her. Dann nervt das Geschrei der Nachbarskinder plötzlich furchtbar. Vergessen sind die eigenen Erfahrungen, da rege ich mich lieber auf über die Eltern, die ihren Nachwuchs so gar nicht im Griff haben. Toleranz? Von wegen, die sollen mal Rücksicht nehmen und mein Schlafbedürfnis respektieren.
Das Beispiel lässt sich fröhlich auf unzählige weitere Bereiche übertragen. Lustige Begegnungen mit Konfliktpotenzial entstehen etwa zwischen Hundebesitzerinnen und hundelosen Menschen, Velo- und Autofahrerinnen, Teenagern und älteren Menschen. Sobald man die Seiten wechselt, vergisst man auch die Nachsicht gegenüber der anderen Seite.
Es gibt Schlimmeres
Die hohe Schule der Toleranz wäre jetzt, so glaube ich, jenen Menschen mit Respekt zu begegnen, die sich nicht in derselben Bubble befinden. Also als Nutzender des motorisierten Individualverkehrs die Bedürfnisse der pedalen-tretenden Bevölkerungsanteile zu respektieren.
Oder als Mutter von Teenagern bei den randalierenden Kleinkindern am Nachbarstisch im Café ein Auge zuzudrücken – auch wenn das heisst, dass die so bitter benötigte kurze Auszeit nicht wie geplant verläuft.
Zugegeben, es nervt – aber es gibt auch Schlimmeres. Und die Mutter am Nebentisch ist bestimmt auch ohne genervten Kommentar meinerseits gestresst genug.
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