«Reibung ist etwas Gutes»

Patrick Bolle lehnt sich entspannt zurück, blinzelt zufrieden in die Sonne. Seit einigen Wochen ist der jugendlich wirkende Mann, der auch nach vielen Jahren in Zürich seinen Bündner Akzent nicht verloren hat, daran, seinen Weggang vorzubereiten. «Stückenweise» Abschied zu nehmen, wie er sagt.

Zehn Jahre sind vergangen, seit Bolle aus dem Kreis 5 hoch nach Höngg gekommen war, um die Leitung des GZ Höngg anzutreten. Zuvor war er stellvertretender Leiter des Jugendkulturhaus Dynamo, hatte Kulturmanagement studiert und eine Ausbildung zum Soziokulturellen Animator abgeschlossen. Betrachte man das Wort «Soziokultur», so beinhalte dieses zwei Bereiche, er sei eher in der kulturellen Ecke verankert, meint er. Wieso es ihn damals ausgerechnet nach Höngg gezogen habe, will der «Höngger» wissen. Was ihn hier erwartete und ob es ihm leichtfällt, weiterzuziehen.

Bevor ich nach Höngg gekommen bin, kannte ich das Quartier überhaupt nicht. Das war mitunter ja auch der Grund, hierher zu wechseln. Ich wusste, dass ich es hier mit ganz unterschiedlichen Altersgruppen zu tun bekommen würde, während ich zuvor überwiegend mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen gearbeitet hatte. Das hat mich interessiert. Daneben war es mir auch wichtig, meine Erfahrungen als Leiter zu vertiefen, Verantwortung zu übernehmen. Das Gemeinschaftszentrum in Höngg ist das jüngste der Stadt. Als ich anfing, war es noch gar kein GZ, sondern ein Quartiertreff der Stadt. Eine Aufgabe war es, diese neue Institution bekannt zu machen, der Höngger Bevölkerung bewusst zu machen, dass es «ihr» GZ ist, das sie nutzen können. Dieses Bewusstsein ist noch immer nicht bei allen angekommen, das dauert wahrscheinlich eine Generation. Wir sind zwar gut ausgelastet, doch oft kommen die Nutzer*innen unserer Räumlichkeiten aus anderen Quartieren oder Gemeinden. Das ist heute auch eine Realität: Die Leute sind mobil, sie suchen sich in der Stadt die GZ aus, die ihren Bedürfnissen am besten entsprechen. Herausfordernd waren die verschiedenen Standorte im Zentrum und im Rütihof. Diese Bekanntmachung ist noch immer nicht abgeschlossen, aber wir sind fast da. Auch deshalb scheint es ein guter Moment zu sein, um weiterzuziehen.

Gibt es Projekte, die du dennoch gerne noch miterlebt hättest?

Ja und nein. Ich wäre gerne dabei gewesen, wenn das Areal Grünwald überbaut wird. Ganz unabhängig von all den Diskussionen, wie es umgesetzt werden soll. Es wäre interessant gewesen zu sehen, wie sich das Quartier Rütihof entwickelt, wie es sich neu formiert, wenn plötzlich so viele Menschen dazukommen. Aus soziokultureller Sicht wäre das natürlich ein hochspannendes Feld, etwas, das man nicht oft miterleben kann. Gleichzeitig ist es gut, zu gehen, bevor dieser Prozess beginnt, damit meine Nachfolge von Anfang an dabei sein kann. Bei anderen Bereichen, in die wir in der Vergangenheit viel investiert haben, würde es mich interessieren zu sehen, wie diese sich weiterentwickeln, zum Beispiel unsere vermehrte Einbindung älterer Menschen und die Zusammenarbeit mit den Schulen. Ob unsere Projekte und Angebote nachhaltig Wirkung zeigen. Das werde ich nun etwas verpassen. Aber grundsätzlich habe ich kein Problem damit, loszulassen. Ich bin jemand, der sich sehr stark mit seiner Arbeit identifiziert. Doch wenn die Entscheidung getroffen ist, weiterzuziehen, dann fällt es mir zum Glück nicht schwer, mich zu lösen. So fühle ich mich auch nicht dazu verleitet, meiner Nachfolge reinzureden oder irgendwelche «Tipps» zu geben.

Gab es während deiner Zeit als GZ Leiter besondere Brennpunkte?

In der Bevölkerung existiert die Wahrnehmung, dass die Jugend speziell in Höngg ein besonderer Brennpunkt sei. Das stimmt so allerdings nicht, die Situation hier unterscheidet sich nicht wirklich von der Situation in der ganzen Stadt. Die Themen sind überall dieselben: Die Jugendlichen beanspruchen Raum für sich, möchten ihn aber auch selber aussuchen. Oft ist es eben nicht der, den die Erwachsenen ihnen «unter bestimmten Bedingungen» zuteilen wollen. Coronabedingt sind die Jugendlichen in den vergangenen Monaten noch sichtbarer geworden, weil sie sich nirgends treffen konnten, ausser im öffentlichen Raum. Da kommt es zu Reibungen. Meiner Meinung nach gehört der öffentliche Raum aber allen Altersgruppen gleich stark. Und er gehört einem nicht eher, nur weil man sich leise verhält. Dass die Jugend – zu Recht – mehr einfordert, merken wir auch in der Jugendarbeit, wir werden öfter beigezogen als früher, auch an den Schulen. Es gibt eine grosse Dynamik im Quartier. Anders als die Vorurteile behaupten, befindet sich Höngg nämlich gerade mitten in einem Verjüngungsprozess, das vermeintlich überalterte Quartier ist längst keine Realität mehr. Der Generationenwandel wird das GZ noch länger und intensiver beschäftigen. Ich sehe das positiv: Die Jugendlichen wollen mitreden, sie haben Ansprüche, sie wollen etwas bewegen. Unsere Aufgabe in der Jugendarbeit ist es, Verständnis dafür zu schaffen, aber auch die Jugendlichen für verschiedene Bedürfnisse zu sensibilisieren. In einer Stadt gehört diese Reibung dazu, gäbe es sie nicht, so würde ich mir Sorgen machen. Menschen haben die Tendenz, ein sehr enges Weltbild zu bekommen, wenn er oder sie nicht mehr mit Andersartigem konfrontiert wird. Er braucht Widerstand um eine Resilienz aufzubauen, dank der sie oder er auch andere Situationen im Alltag bewältigen kann. Dabei verläuft der Graben schon lange nicht mehr zwischen den Generationen – es gibt sehr viele ältere Menschen, die viel Verständnis für die Jungen zeigen – sondern eher zwischen unterschiedlichen Empfindlichkeiten oder Vorstellungen von Werten.

Welche Schwerpunkte habt ihr im GZ Höngg gesetzt?

Da wir kein Café, kein geeigneter Aussenraum und keine Tiere haben, war das GZ nie ein Magnet oder Treffpunkt, die Leute kommen vor allem hierher, wenn ein Anlass stattfindet. Deshalb arbeiten wir viel draussen, das heisst, wir gehen in die Siedlungen, zu den Leuten, in die verschiedenen Unterquartiere wie Am Wasser, Frankental, Rütihof. Unser Ziel ist es herauszufinden, was die verschiedenen Bevölkerungsgruppen wollen. Das ist sehr aufwendig herauszufinden und nie abgeschlossen, sondern es geht immer weiter, weil sich alles immer verändert, insbesondere in einem so heterogenen Quartier wie Höngg. So bleibt immer ein blinder Fleck, der uns unbekannt ist, den wir noch nicht erforscht und begriffen haben. Das kann frustrierend sein, aber mich spornt das eher an. Was wollen die Leute eigentlich? Das ist die Kernfrage, die sich jedes GZ stellen muss. Es ist eine permanente Unruhe, die mir persönlich aber sehr gefällt.

Was nimmst du mit als wichtigste Lektion aus den letzten zehn Jahren?

Ich bin als Kulturmanager und Soziokultureller Arbeiter darin ausgebildet, zu analysieren, wie Menschen zusammen interagieren. Wie sie zusammen Projekte organisieren. Aus dieser professionellen Warte betrachte ich Organisationssysteme. Das Wichtigste, das ich gelernt habe, ist: Es geht auch anders. Andere Menschen haben einen völlig unterschiedlichen Zugang und erreichen dasselbe Ziel auf einem ganz anderen Weg. Klar, jede*r kennt das Sprichwort «viele Wege führen nach Rom». Aber es theoretisch zu wissen, oder wirklich zu erleben, das sind zwei verschiedene Dinge. Für mich ist es eine Erkenntnis, die ich mitnehme: Es gibt noch ganz viele verschiedene Herangehensweisen, etwas zu organisieren oder ein Ziel zu erreichen.

Was macht dich persönlich stolz oder glücklich?

Ich verspüre eine grosse Demut gegenüber all den Menschen, die sich für das Quartier engagieren und denen ich begegnen durfte. Dass wir immer mit an den sprichwörtlichen und wortwörtlichen Tisch sitzen durften, mit verschiedenen Institutionen, den Kirchen, den Siedlungskommissionen, dem Hallenbad, den Vereinen, und, und, und. Ich bin dankbar, dass ich diese Funktion wahrnehmen durfte. Das ist keinesfalls selbstverständlich. Dasselbe gilt für meine Mitarbeiter*innen: Ohne diese grossartigen Menschen hätte ich nichts von alledem machen können. Stolz bin ich darauf, dass mein Team und ich immer offen geblieben sind, uns keiner Gruppierung verschlossen haben, uns immer eingelassen haben. Es ist ein Privileg und eine Chance mit so vielen verschiedenen Menschen und Gruppierungen zusammenarbeiten zu dürfen. Das ist wahrscheinlich die grösste Errungenschaft meiner Zeit. Diese Vielfalt erleben zu dürfen. Das ist ein Geschenk, das ich mitnehmen werde.

Im August heisst es also «Auf Wiedersehen Höngg», «Hallo GZ Heuried». Dort wird Bolle zukünftig die Leitung übernehmen und Höngg «aus der Ebene betrachten», wie er sagt. Seine zahlreichen Projekte, wie das FUNDBÜRO2 oder «Hallo, Tod!», das schweizweit erste interdisziplinäre Kulturfestival zum Tod, an denen er neben seiner Anstellung noch arbeitet, will er vorläufig reduzieren und sich eine kurze Pause gönnen, bevor er die neue Stelle antritt. Es ist aber davon auszugehen, dass man ihn auch in Zukunft wieder in einem kulturellen oder künstlerischen Kontext in der Stadt antreffen wird, zu gross und breit gefächert ist sein Interesse an allem, was die Gesellschaft betrifft. Für das Quartier war er eine Bereicherung, ein Vernetzer, ein offener, wacher Macher. Auf Wiedersehen in Höngg, Patrick Bolle.

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