Mit viel Fingerspitzengefühl provozieren

«Theater ist etwas für alle»: Susanne Schloss holt die Leute aus sich raus.

Susanne Schloss wohnt nicht mehr im Quartier, trotzdem ist sie hier noch fest verwurzelt.

Cindy war im achten Monat schwanger, mit ihrem Mann Leo sass sie inmitten einer Geburtstagsgesellschaft in einem grossen Garten. Es war Hochsommer und sie schwitzte in ihrer dicken weissen Strumpfhose, die sowieso nicht recht zu ihrem schönen Seidenrock und den hohen silbernen Schuhen passen wollte. Aber als sie sie ausziehen wollte, brüllte Leo sie an: «So bekommst du bloss wieder eine Blasenentzündung!». Manche der anderen Gäste fingen an, sich einzumischen – da wurde Leo noch wütender. Das stinke ihm alles sowieso, rief er aus, «jetzt kommt dieser Goof zur Welt und ich muss meinen Porsche verkaufen!» Viele der Gäste waren schockiert, aber manche von ihnen gaben Leo Stützhilfe.
Das war der erste Anlass, an dem ich unsichtbares Theater spielte, vor 30 Jahren. Ich bin Schauspielerin, und damals hatte mich ein Schauspielkollege angefragt, ob ich mit ihm unsichtbares Theater spielen würde. Zwar war ich an jenem Fest tatsächlich schwanger mit meinem ersten Kind, aber die Charaktere von Cindy und Leo hatten wir komplett erfunden.
Unsichtbares Theater geht auf einen brasilianischen Theaterautor zurück. Man wird an Geburtstagen, Hochzeiten oder ähnlichen Anlässen engagiert, um zu spielen, wobei meist nur der oder die Gastgeber*in weiss, wer man wirklich ist. Von den ungefähr 2 000 Auftritten, die mein Schauspielpartner und ich seit jenem ersten gehabt haben, war jeder anders, aber es war immer fantastisch.
Ich habe nebst Cindy mehrere Figuren und in welche Rolle ich schlüpfe, kommt sehr auf den Anlass an. Aber ob mein Kollege und ich nun ein verschrobenes Ehepaar oder komische Kellner spielen, es geht immer darum, Dinge zu tun, die man sonst nicht tut. Im unsichtbaren Theater provoziert man, diskutiert mit den Gästen, baut so langsam eine Geschichte auf, experimentiert mit sozialen Regeln. Spiele ich eine Serviertochter, dann probiere ich vielleicht den Wein, oder lege den Gästen eine Serviette um den Hals und putze ihnen manchmal den Mund, oder ich sauge mit einem kleinen Handstaubsauger den Tisch. Das braucht viel Fingerspitzengefühl, denn die Leute dürfen einen ja nicht durchschauen, und es stellt sich immer die Frage, was Platz hat und was zu weit geht. Oft deckt man so die Schattenseiten der Gäste auf.
Nach zwei Stunden platzt dann üblicherweise die Bombe, der Gastgeber klopft mit einem Löffel gegen ein Glas und klärt die versammelte Gesellschaft auf. Die Reaktionen sind sehr unterschiedlich, manche reagieren erschreckt oder verschämt, aber meistens ist die Situation sehr lustig.
Schon als kleines Kind träumte ich davon, Schauspielerin zu werden. Vielleicht, weil ich in einer Künstlerfamilie aufgewachsen bin. Ich bin eine Urhönggerin, meine Eltern sind vor meiner Geburt ins Quartier gezogen. Meine Mutter gab in den umliegenden Schulhäusern Blockflötenunterricht. Ausserdem war sie Bildhauerin und schrieb Theaterstücke, die jedes Jahr vom Höngger Kirchenchor aufgeführt wurden. Mein Vater führte jeweils Regie. Er war Organist, Dirigent, Kunst- und Orgelbaulehrer. Die schöne Orgel in der Reformierten Kirche hat er konstruiert, als ich noch ganz klein war.
Meine Kindheit und Jugend im Quartier habe ich in sehr guter Erinnerung. Wir Jungen hatten den Wald und das Werdinseli, und später wurde uns das «Jufo» wie ein zweites Zuhause. Mir scheint, wir waren freier, als man es heute ist. Dabei war Höngg wirklich ein Dorf. Ich erlebte es, als das Frankental noch eine Wiese war und es die alte Mülihalde noch gab, eine verrauchte «Chnelle», in der sich Jung und Alt mischten. Und es gab damals noch richtige Dorforiginale, auch ein paar tolle Künstler, die mich immer sehr fasziniert und inspiriert haben.
Heute wohne ich nicht mehr im Quartier, bin aber immer noch fest damit verbunden. Vor 25 Jahren gründete ich hier nämlich das Kindertheater «Märlibühne», das ich bis heute in der Lila Villa leite. Meine Mutter hatte mich auf die Idee gebracht, eine Kindertheater-Ausbildung zu machen, als meine eigenen noch klein waren. Sie waren alle vier dann auch bei der «Märlibühne» dabei.
Die Kinder, die mitmachen, sind alle zwischen 6 und 12 Jahre alt. Jeden Herbst und Winter spielen wir Theaterspiele und improvisieren viel. Ich habe einen Koffer mit alten Kleidern, und sie überlegen sich damit aus dem Stegreif ein Theater. Wir Erwachsenen können so etwas gar nicht mehr – bei Kindern sprudelt es einfach! Zwischen den Weihnachts- und den Frühlingsferien festigt sich dann aber langsam ein Stück, das wir im Sommer schliesslich aufführen. Letztes Mal war es die Goldene Gans. Die Kinder haben so viele Fäden daraus gesponnen… Nach der Aufführung kam ein alter Schauspieler aus dem Publikum auf mich zu und sagte, das sei Bernhard Theater-würdig gewesen.
Das Bernhard Theater oder das Schauspielhaus haben mich als Schauspielerin früher übrigens sehr gereizt. Aber mit dem unsichtbaren Theater war ich immer meine eigene Herrin und konnte meine eigenen Figuren schaffen. Wobei es lange auch eine sehr intensive Zeit war; samstagabends nach den Auftritten war ich früher meist todmüde und habe sonntags dann gerne ausgeschlafen – das heisst, bis 9 Uhr, ich hatte ja kleine Kinder. Jetzt, wo sie gross sind, nähe ich meiner Freizeit, bastle Schmuck, male oder spiele auf meinem geliebten Cello, das ich habe, seit ich ein Kind bin. Claude Starck, der weltberühmte Höngger Cellist, hat es damals für mich ausgewählt, worauf ich sehr stolz bin. Im Moment schreibe ich ausserdem an einem sozialkritischen Film und einem Kabarettprogramm. So ist das Schauspielerische auch Teil meiner Freizeit. Theater, finde ich übrigens, ist etwas für alle – auch für Erwachsene!

In diesen monatlichen Beiträgen werden ganz normale Menschen aus Höngg porträtiert: Man braucht nicht der Lokalprominenz anzugehören und muss auch nicht irgendwelche herausragenden Leistungen vollbracht haben, nein, denn das Spezielle steckt oft im scheinbar Unscheinbaren, in Menschen «wie du und ich».
So funktioniert’s: Die zuletzt porträtierte Person macht drei Vorschläge, an wen der Stab der Porträt-Stafette weitergereicht werden soll. Die Redaktion fragt die Personen der Reihe nach an und hofft auf deren Bereitschaft.
Sollte die Stafette abreissen, sind wir froh, wenn auch Sie uns mögliche Kandidat*innen melden. Kontaktangaben bitte per Mail an redaktion@hoengger.ch oder Telefon 044 340 17 05.

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