Dagmar schreibt
Mit den Wänden sprechen
Unsere Redaktorin Dagmar Schräder schreibt über die grossen und kleinen Dinge des Lebens. Heute über ein Schicksal, das wohl alle Eltern vereint.
8. Oktober 2024 — Dagmar Schräder
Es ist so. Man hat Kinder. Und die werden unheimlich schnell gross. Gerade eben waren sie alle noch winzig klein und verbrachten ganze Nachmittage harmonisch mit Muttern im Sandkasten. Und kaum kuckt man einmal nicht richtig hin, da sind sie erwachsen. Ist der ganz normale Lauf der Dinge. Und es ist wunderbar, die Kinder beim Heranwachsen begleiten zu dürfen, zu sehen, wie sie selbstständig werden. Toll, was für Gespräche man plötzlich mit den Kindern führen kann, auf Augenhöhe. Über Gott und die Welt.
Theoretisch. Denn in der Realität sind Teenager nicht unbedingt die idealen Ansprechpersonen. Gestern zum Beispiel, da kam ich voller wichtiger Erkenntnisse nach Hause und brauchte dringend jemanden, dem ich diese mitteilen konnte. Und an potenziellen Gesprächspartner*innen mangelte es mir wahrlich nicht: Vier menschliche Individuen warteten zu Hause auf mich. Aber Pustekuchen: Individuum eins, 17, fiel schon mal aus, weil sie im Bett lag. Nachmittagsschläfchen, wie üblich nach einem harten Schultag. Pech gehabt.
Individuum zwei, 20, sass in seinem Zimmer hinter verschlossenen Türen. Am Computer. Schnitt gerade ein Video. Keine Chance auf ein Gespräch, das versucht man lieber gar nicht.
Individuum drei, 11, ist in der Regel noch verhältnismässig gut erreichbar. Nur jetzt hatte ich Pech. Ich fand ihn auf dem Sofa vor, mit seinen Kumpels am Gamen. «Hallo», rief ich, doch mein Ruf verhallte ungehört. «Bin wieder da.» Null Reaktion. Blieb nur noch Individuum vier, 19. Dieses weibliche Exemplar hielt sich gerade in der Küche auf. Kochte irgendwas und hatte ihr Handy am Pfefferstreuer angelehnt, damit sie währenddessen ihre Serien schauen konnte.
Die musste ich mir packen. Ich platzte in die Szenerie und legte los. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis ich wahrgenommen wurde. Allerdings nicht ganz so, wie ich mir das erhofft hatte. Ein leichtes Augenverdrehen ihrerseits gab mir einen Hinweis darauf, wie interessiert sie an meinem Schicksal war. «Weiss doch auch nicht», antwortete sie auf meine Frage, wie ich auf die eben geschilderte Situation reagieren sollte. «Muss jetzt lernen», fuhr sie fort und verschwand.
Super. Da blieb mir halt nix anderes übrig, als den Wänden mein Leid zu klagen. Die konnten wenigstens nicht davonlaufen. Und deren Antworten waren ähnlich qualifiziert wie die der Kinder. Sei’s drum. Ich übte mich in Resilienz, schob den Frust beiseite und widmete mich stattdessen meinem spannenden Krimi.
Doch genau dann, als ich gerade völlig im Plot versunken war und die vier Individuen erfolgreich ausgeblendet hatte, nahmen diese wieder Kontakt auf. Per WhatsApp aus ihrem Zimmer. «Mamilein», schrieb da eine von ihnen. Herzallerliebst. Sie wollte mir etwas mitteilen! «Was gibt’s zum Abendessen? Hab Hunger. Gehste Coop?»
Ich glaub, ich bleib in Zukunft doch beim Gespräch mit den Wänden. Die stellen wenigstens keine Forderungen.
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