Quartierleben
Komatöses Höngg
Höngg – und insbesondere die verantwortliche Politik – liegt im Koma. Findet Gastautor Alex Steiner, der 1941 in Höngg geboren wurde und sich über die Thematik «Ein Dorf ohne Dorfplatz» der Ausgabe vom 29. Juni so aufgeregt hat, dass er hier eine radikale Diagnose, eine Analyse und eine Lösungsidee präsentiert. Er fordert: «en Marche! à Höngg»!
16. August 2017 — Eingesandter Artikel
Der Patient (22’000 Einwohner) liegt auf dem Sterbebett. So die Diagnose. Das «Dorf» leidet an akuter Thrombose, die Verkehrsadern sind verstopft und die politische Weitsicht ist weitgehend verschwunden. Auch das Herz leidet. Ein Bypass, für jeden heutigen Herzpatienten eine Selbstverständlichkeit – der Europa-Brücken-Tunnel wurde schon vor sehr langer Zeit per Abstimmung verneint, eine neuerliche Abstimmung fand nicht statt und so leben wir mit dem Resultat der Stimmbürger, einem Haufen eingebildeter Städteplaner und Verkehrsexperten. Dann kam die Invasion von Altersheimen, Pflegeheimen, Altersresidenzen; die alle wollten (Ausnahme Bombach) so nahe dem Zentrum sein, dass deren Gäste bequem, mit ihren Rollatoren oder was auch immer zur Tramstation fahren können. Hallo, es gibt noch viele Tramstationen in Zürich, warum seid ihr alle hier, warum in der Nähe des Meierhofplatzes?
Laut Statistik der Stadt Zürich ist die Bevölkerungsstruktur geprägt von einem sehr hohen Anteil an älteren Personen ab 65 Jahren und einem entsprechend tiefen Anteil an Personen zwischen 15 und 64 Jahren. Wir, die noch aktiven Mitbewohner und unsere Kinder möchten aber lieber ein lebendiges, frohes, auch manchmal ein lautes Höngg, ein Höngg wie Ihr Alten das auch erleben durften. Die ewige Ruhe kommt früh genug. Wie im Höngger zitiert: «… fährt man mit dem Bus vom Hauptbahnhof nach Höngg, beobachtet man bis zur Nordstrasse Leben – danach und speziell in Höngg, scheint es, als wären die Gehsteige hochgeklappt worden.» Wahrhaftig ein vernichtendes Urteil. Kein Wunder also, kommt praktisch niemand vom restlichen Zürich nach Höngg, vielleicht zur Werdinsel, ins Desperado oder den Grünwald, aber sicher nicht ins Zentrum. Der tägliche Stau auf der Limmattalstrasse macht Höngg auch nicht gerade sexy.
Vielleicht sollten wir uns endlich auch als Stadtbürger bekennen. Städte sind nun mal da für all die vielen Leute, die mit ihrer Arbeit und Freizeit einen gewissen Lärmpegel erzeugen, ganz zu schweigen von Trams, SBB, Verkehr, Jets und Kinderspielplätzen. «Höngger» vom 29. Juni: «Die Frage aber, ob es legitim wäre, die möglichen Bedürfnisse einer Allgemeinheit höher zu gewichten als den Wunsch der Anwohnerschaft nach Ruhe …» wagt unsere komatöse Politik natürlich nicht zu beantworten, speziell da die meisten Politiker älteren Semesters sind und sicher schon eine Reservation auf eine «ruhige» Alterswohnung hinterlegt haben.
Analyse
Höngg hatte nie einen eigentlichen Dorfplatz, aber es hatte sehr viele Beizen mit Gartenrestaurants, gesellige Orte, um Quartiersneuheiten auszutauschen, Stammtische und Kinderschaukeln. Bis zirka 1960 war die «Alte Post» mit ihrem riesigen Gartenrestaurant unter Kastanienbäumen äusserst beliebt. Wenn ich mich recht erinnere, gabs dort an Sonntagen auch Musik und an regnerischen Tagen konnte man die grosse Modelleisenbahn, Wirt Jucker’s grosses Hobby, das fast den ganzen zweiten Stock in Anspruch nahm, besichtigen. Bis zur etwa gleichen Zeit war das Restaurant Wartau, das zusätzlich zum Gartenrestaurant auch eine Armbrustschützen-Anlage hatte, sehr populär. Im Limmatthof und im Bombach gab es Kegelbahnen. Im Winter war das Restaurant Mühlehalde der soziale Mittelpunkt, gab es doch praktisch jeden Samstag ein «Kränzli», also eine Vereins-Fete mit Freinacht und Tanz bis in die Morgenstunden. Dort traf sich Jung und Alt. Ich schätze mal, dass in ganz Höngg über zehn solche soziale Treffpunkte existierten, bei einer damaligen Bevölkerung von rund 14’000 Einwohner.
Zum Schwimmen traf man sich im Waidbad (obere Waid), das herrlich mitten im Wald lag und bis um 22 Uhr offen hatte. Oder aber man traf sich beim Limmatwehr auf der Werdinsel, allerdings konnte man nur auf dem Grünstreifen entlang des Ufers sonnenbaden, da der Rest der Insel ein privater Autoschrottplatz war. Nicht zuletzt weil ein Schrottplatz an dieser idyllischen Lage vielen ein Dorn im Auge war, kaufte die Stadt Zürich das Areal im Jahr 1958 zurück, um in Zukunft an dieser Stelle ein Naherholungsgebiet zu gestalten. Es folgten Einsprachen des Gewerbeverbandes, welcher sich für einen Verbleib der Firma von Viktor Tognazzo stark machte. So dauerte es bis ins Jahr 1981, bis die letzten Autowracks die Insel verlassen haben. In Zürich braucht es dreimal länger als der zweite Weltkrieg tobte, um einen Schrottplatz zu räumen oder als Dubai zu erbauen. Ehrlich, wir sollten uns schämen. Komatöse Politik? Wurde das Drehbuch für «Walking Death» in Höngg konzipiert? Doch für uns Höngger reichten all diese Treffpunkte völlig aus und ein Dorfplatz war nie ein Thema, zumal man ja noch den Kirchenplatz hatte.
Die publizierte Zeichnung eines Dorfplatzes war zum Weinen, ich verurteile nicht den Künstler, aber die grenzenlose Einfallslosigkeit des Konzeptes. Zwei Bänkli mit Greisen machen keinen Dorfplatz, auch nicht mit spielenden Kindern als Garnitur.
Banlieue im Zentrum
Ein Spaziergang durch den Dorfkern öffnet wohl jedem die Augen, dass es sehr wenige Orte gibt, an denen wir einen Treffpunkt errichten könnten. Ich sah einen Gemüsestand auf dem Meierhofplatz, eine wunderschöne Kulisse mit den Riegelhäusern als Hintergrund, wurde aber sofort geschockt, als ich in den Innenhof des Rebstockgebäudes abbog. Hand aufs Herz, waren Sie jemals in dieser Bauruine? Es sieht aus wie in einem Banlieue in Paris. Also gings weiter zum Zwielplatz, wo natürlich der violette Klotz ins Auge sticht. Wie kann man nur so etwas 100 Meter von der Kirche entfernt hinstellen, nachdem immer so ein grosses Theater um Dorfkernerhaltung gemacht wird? Komatöse Politik am Werk? Das einzig Gute, das gesagt werden kann, ist, dass der Kulturkeller die eiserne Gefängnis-Fassade des dahinter liegenden Gebäudes verdeckt. Also auch hier kaum ein Treffpunkt – ausser durch die sommerliche Outoor-Bestuhlung des Desperados.
Nicht jammern, Ideen bringen
Das Depot Wartau, ein für sich herziges, kleines Industriegebäude dient seit dem Wegzug des Tram-Museums als Werkstätte des Vereins Tram-Museum Zürich. Schaut man durch die verstaubten Fenster wird bald klar, dass die Auslastung dieser Liegenschaft für wenige Tram-Skelette und ein paar Stunden Fronarbeit kleiner als minim ist. Diese Arbeiten könnten locker in einer Ecke der vielen VBZ-Depots gemacht werden. Für die heutige Gesundheitskultur gibt es keine Treffpunkte ausser Gyms und Sportvereine, für den Feierabend-Jogger oder Biker ist die Luft sehr dünn. Deshalb darf ich vorstellen: Das «Träff» im Depot Wartau. Ideal erreichbar, liegt das Joggingcenter perfekt für einen Feierabendrun, sei es entlang der Limmat oder hinauf zum Hönggerberg. Es hat den Ausbaustandard einer Badeanstalt, ist somit erschwinglich und dient der heutigen aktiven Bevölkerung. Ich schlage darum vor, dass das Gebäude zum Teil als offene Markthalle umfunktioniert wird. Wegmann und andere Bauern könnten dort einen Stand betreiben. Der verbleibende Raum wird zweistöckig ausgebaut mit einer alkoholfreien Saftbar, samt einem grossen Wintergarten zum bestehenden Areal, sodass ein zehnmonatiger Betrieb gewährleistet ist. Im Sommer lädt das Gartencafé zum Verweilen ein. Gleichbleibende oder keine Mieten für die Marktstände und eine nominale für die Bar würden für reges Interesse an Mieter sorgen. Auch wenn die Stadt das minim subventionieren müsste, es wäre sicher sinnvoller als manch bestehende Subvention und sicher auch viel billiger als neues Bauen. Endlich einen Beitrag an die Mid-30er-Generation, unsere Steuerzahler und AHV-Garanten. Mir scheint diese Lösung für einen neuen Höngger-Treffpunkt ideal. Mit kleinem Budget grosse Wirkung. Der Planung sollte ein Wettbewerb in der Gewerbeschule für angehende Dekorateure und Innenarchitekten vorausgehen, um weiter violette Blöcke oder andere DDR-Architektur zu vermeiden.
Was wir jetzt brauchen ist ein «Emmanuel Macron» – en Marche, à Höngg!
Gastbeitrag von Alex Steiner
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