Kampf mit den «Jungen», Wertschätzung von den «Alten»

Walter Martinet ist seit zwölf Jahren Leiter des Altersheims Hauserstiftung. In weniger als 70 Wochen wird er pensioniert. Er erzählt, wie sich das Männerbild in seinem Umfeld mit den Jahrzehnten gewandelt hat, und was er mit Jungen und Alten erlebte.

Walter Martinet mag friedlichen Umgang – ob mit Zwei- oder Vierbeinern. Hier mit einem Büsi vom Altersheim Hauserstiftung vor dem Aquarium in der Cafeteria.

«Stop, stop!» ruft Walter Martinet, als die Redaktorin des «HönggERs» fragt, ob er mit 65 Jahren, also in zwei Jahren, pensioniert werde. «In genau 67 Wochen werde ich pensioniert. Ich zähle nämlich die Wochen bis zu meiner Pensionierung. Jeden Montag schneide ich an einem Massband einen Zentimeter ab.» Dass sein Leben nicht immer zentimetergenau verlaufen ist, zeigt seine Geschichte.

Vom Elektrozeichner zum Sozialpädagogen

Walter Martinet, im Zürcher Kreis 4 aufgewachsen, absolvierte eine Elektrozeichner-Lehre, arbeitete danach aber nur ein Jahr auf dem Beruf, da er rasch merkte, dass er nicht sein Leben damit verbringen wollte. Eigentlich wollte er Bergführer werden, doch ein Unfall in den Bergen mit anschliessenden Knie-Operationen zerstörte diesen Wunsch. Er entschied sich mit 22 Jahren, die Ausbildung zum Sozialpädagogen in Basel in Angriff zu nehmen – diese hiess 1973 «Schule für Heimerziehung» und dauerte inklusive Vorpraktikum drei Jahre. Seine erste Stelle fand er auf der Beobachtungsstation in der Jugendstätte Gfellergut in Schwamendingen. Dort hatte er ein Personalzimmer und lebte somit am Arbeitsplatz. In der Beobachtungsstation wurden 15- bis 20-jährige Jugendliche untergebracht, die man sechs bis acht Monate einer Berufs- und Persönlichkeitsabklärung unterzog. Er war damals Mitte 20, und der Umgang mit den jungen Straftätern sei speziell gewesen: «Ich musste mir Respekt verschaffen, indem ich mich nicht auf ihr Niveau hinunterliess und als Persönlichkeit ernst genommen wurde», erzählt er. Die Charaktere seien ganz unterschiedlich gewesen: Vom Macho oder dem Unterwürfigen bis zum Überangepassten, bei dem irgendwann einmal der «Vulkan» ausgebrochen sei, sei alles an der Tagesordnung gewesen. «Nach dreieinhalb Jahren hatte ich das Heimleben hier oben» sagt Walter Martinet und zeigt zur Nase. In

Höngg zuerst Arbeit mit Jugendlichen, dann mit Senioren

1979, mit 29 Jahren, kam Walter Martinet nach Höngg. Grund dafür war die Stelle des Jugendarbeiters in der reformierten Kirchgemeinde. «Ich war für das Jugendkafi Albatros im ‹Sonnegg› sowie für die Jugendberatung zuständig. Das ‹Albatros› war einige Monate zuvor wegen Drogen- und Alkoholproblemen von den Behörden bis auf Weiteres geschlossen worden. Als ich den Raum betrat, schlug mir kalter Rauch aus vollen Aschenbechern und Schimmelgeruch aus halbvollen Gläsern entgegen.» Eine seltsame Stimmung, die Walter Martinet jedoch rasch in gute Bahnen lenkte: «Ich räumte auf, installierte das Elektrische neu und eröffnete das ‹Albatros› wieder.» Die drei Jahre als Jugendarbeiter seien «ein einziger Kampf, aber eine gute, strenge Zeit» gewesen. Obwohl er bei Problemen immer hart durchgriff, wurde er von den Jugendlichen akzeptiert und respektiert. Wollten die Jugendlichen nicht begreifen, so drohte er den «Laden» zu schliessen. Dies habe gewirkt, denn die zahlreichen Jugendlichen zwischen 13 und 20 wollten ja ihre Zeit im «Albatros» verbringen können. «Noch heute sagen mir Frauen und Männer, die als Teenager dort waren, dass ich mit meiner Art gut angekommen sei. Ich sei zwar streng gewesen, aber genau das hätten sie gebraucht. Wenn man in solchen Positionen nicht konsequent ist, erreicht man nichts.» Der Vater von zwei Söhnen, die heute 37 und 38 Jahre alt sind, findet eine gerechte, geradlinige Erziehung wichtig. «Wir haben nie etwas von ihnen verlangt, das nicht auch für uns Eltern Gültigkeit hatte. Dass meine Frau Catherine und Kampf mit den «Jungen», Wertschätzung von den «Alten» ich so richtig lagen, zeigt der Brief, den uns unsere Söhne mit 18 schrieben – sie dankten uns für die gute Erziehung, dank derer sie gut im Leben stünden.»

«Was macht der Jugendarbeiter bei uns Senioren?!»

Nach dreieinhalb Jahren als Jugendarbeiter zog es Walter Martinet in einen ganz anderen Bereich der Sozialarbeit: zu den Senioren. «Der Höngger Seniorenverantwortliche Ernst Aerne wurde pensioniert, und ich übernahm seine Stelle. Ich war langsam in einem Alter, in dem ich genug von der Jugendsozialarbeit mit all ihren Konfrontationen hatte.» Die Senioren waren komplett anders als die Jugendlichen, schätzten sein Engagement für sie und erlebten auf unzähligen Reisen Schönes und Eindrückliches. «Zuerst war der Tenor ‹Jetzt spinneds bi de Chile, schicked eus en Jugendarbeiter!›, aber wir hatten 22 Jahre lang eine super Zeit zusammen.» Ob für die Rüstigen Reisen nach Russland, für die Schwächeren Reisen in der Schweiz oder für alle zusammen Führungen und Anlässe, das Programm von Walter Martinet wurde rege genutzt. «Es gab sogar Leute, die zogen wegen dem Seniorenprogramm nach Höngg.» Zusammen mit den Senioren sei auch er älter geworden. «Ich fühlte mich ihnen immer näher, denn ich sah, was es bedeutet, alt zu werden.» Vor zwölf Jahren kam der Moment, an dem Walter Martinet frische Luft schnuppern wollte. Der Zufall half: Die Heimleiterstelle in der Hauserstiftung wurde frei. Nun sind die Senioren um ihn herum noch älter als in der reformierten Kirchgemeinde – aber wie es der normale Lauf ist, wird auch Walter Martinet älter und ist nach seiner baldigen Pensionierung ein Senior. Was ist ihm in all den Jahren aufgefallen? «Die Männerwelt hat sich schon verändert. Heute ist sich jeder selbst am nächsten, und es gibt viele Machos. Ich kann gar nichts anfangen mit Männern, welche so dominant sind, dass die Frau daneben nicht einmal atmen kann. Man sollte doch ein Team sein!»

In den Mantel helfen und die Türe aufhalten

Seine drei Schwestern hätten ihm schon von klein auf klargemacht, wie sich ein Mann zu verhalten habe. «Für mich ist es selbstverständlich, einer Frau in den Mantel oder in die Träger des Rucksackes zu helfen. Auch das Türeaufhalten, etwa beim Auto, oder den Stuhl am Tisch herausziehen sind doch schöne, wertschätzende Gesten!» Viele Jugendliche von heute hätten keinen Anstand und deshalb über kurz oder lang Probleme: «Auch wir mussten daran arbeiten, dass unsere Söhne beim Essen die Ellbogen nicht auf dem Tisch hatten. Aber eben, von irgendwoher muss die Erziehung kommen!» Früher seien Männer viel aufmerksamer gewesen, der Knigge der alten Schule noch sehr präsent. «Bei der Seniorenarbeit und hier im Altersheim merke ich tagtäglich, wie diese alten Regeln und Sitten hoch geschätzt werden, und dies macht mir Freude.» Menschen, egal ob Mann oder Frau, sollten viel mehr aufeinander eingehen und sich zeigen, dass sie sich mögen, so der Wunsch von Walter Martinet. «Heute nimmt sich jeder selbst viel zu ernst, auch im beruflichen Sinne. Manch einer denkt, ohne ihn gehe die Welt unter, dabei dreht sie sich genau gleich wie vorher. Ich versuche, mich selbst nicht so wichtig zu nehmen, denn ich habe das Gefühl, dass man so die Bedürfnisse und Probleme der Menschen mehr spürt.»

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