Höngg’s schnellster Senior

Wer frühmorgens in Höngg unterwegs ist, dem ist vielleicht schon mal ein älterer Mann aufgefallen, der joggend und in Sportbekleidung Zeitungen austrägt. Hinter der ungewöhnlichen Erscheinung steckt Gregorio Sablone, eine 81-jährige Kultfigur unter den aktiven Volksläufern.

Gregorio Sablone mit seinen vier Medaillen, die er an der Master EM 2018 in Alicante gewonnen hat.

Gregorio Sablone lebt mit seiner Partnerin seit bald zwanzig Jahren in Höngg. Er lacht viel, hat aber auch eine ernste Seite. «Wenn ich nicht so ein verrückter Läufer wäre, würde ich im Kirchenchor mitsingen», erzählt der ehemalige NZZ-Postbote in seiner Wohnung im Heizenholz. Doch auch ohne das Mitwirken in einer Höngger Institution fühlt sich Sablone im Quartier zu Hause. Vor über sechzig Jahren kam er als Gastarbeiter aus den Abruzzen in die Schweiz. Dort führte ihn sein Weg schon bald nach Zürich. Er habe eine positive Wirtschaftsepoche miterlebt, sagt der fitte Senior, durch das Arbeiten sei ihm die Integration in der Schweiz gut gelungen. Nach der Heirat und der Geburt von drei Kindern war das Budget der Familie jedoch knapp. Darum nahm er einen Nebenjob als Zeitungsverträger an. Teilweise erledigte er zwei Touren gleichzeitig. Um das Zeitlimit zu schaffen, absolvierte er die Touren rennend. So wurde Sablone zum Läufer. Beidem ist er bis heute treu geblieben: dem Laufen mit der gleichen Leidenschaft wie beim Start vor vier Jahrzehnten, dem Nebenerwerb noch als gelegentliche Ferienablösung. Zum aktiven Ruhestand, den er als 81-Jähriger pflegt, gehört aber auch ein soziales Engagement: Seit geraumer Zeit leistet Gregorio Sablone regelmässig Freiwilligenarbeit in einem Pflegeheim. Er zeigt dem Besucher ein Dankesschreiben der Heimleitung. Der Stolz über diese Anerkennung überstrahlt die Freude an den vielen erfolgreich absolvierten Volksläufen.

Über 2000 Volksläufe unter den Füssen

80-jährige Hobbyläuferinnen und -läufer sind heute keine Ausnahme mehr. Separate Klassemente für 80-Jährige fehlen jedoch meist noch. Gregorio Sablone wird darum in der Regel in der Kategorie der 70 bis 79-Jährigen rangiert. Verbittert ist er deswegen nicht; er ist auch bei den Jüngeren vorne mit dabei. Zu einem Aushängeschild der sogenannten Masters wurde er nebst seinen Leistungen vor allem wegen seiner Ausstrahlung. Seine Lebensfreude und Offenheit sind beste Werbung für lebenslangen Breitensport. Bis heute hat er an über 2’000 Volksläufen teilgenommen und dabei rund 200 Kategoriensiege erzielt. Eine eigentliche Statistik führt Sablone nicht. Er sei ein Kamel, das bloss laufen will, merkt er lachend an. Wettkämpfe sind für ihn seit jeher ein wichtiger Ansporn, um in Bewegung zu bleiben. «Ich laufe aber immer gegen die Zeit, nie gegen die anderen Teilnehmer», beschreibt er seine ambitionierte und zugleich unverkrampfte Einstellung. Früher trainierte er ab und zu mit dem Runners-Team Hönggerberg, einer losen Gruppe von Hobbyläufern. In einem eigentlichen Sportverein machte er indes nie mit. Zuerst fehlte das Geld, heute hat er sich längst daran gewöhnt, meist alleine zu laufen. Dank seiner robusten Konstitution blieb er in der langen Zeit als Volksläufer bislang von grösseren Verletzungen verschont. Und so ist auch sein Ehrgeiz ungebrochen. An rund dreissig Rennen nahm Sablone in diesem Jahr bereits teil. Mit einem besonderen Höhepunkt im Mai: Damals reiste er als Mitglied der Interessengemeinschaft älterer Läufer an die Masters Europameisterschaft in Alicante – und kehrte mit drei Goldmedaillen und einer bronzenen Auszeichnung nach Höngg zurück. Mit 52:15 Minuten für zehn Kilometer und 1:53:57 Stunden im Halbmarathon erzielte er in Spanien Zeiten, die auch wesentlich jüngere Läufer nicht ohne Training erreichen.

Faulheit vermeiden

Gregorio Sablone ist als Gastgeber kein ausschweifender Erzähler, der in der Vergangenheit lebt. Dies macht den Besuch bei ihm zu einem angenehmen Erlebnis, bei dem der Generationenunterschied zwischen dem Schreibenden und dem Dauerläufer nicht im Mittelpunkt steht. Beim Gehen fällt der Blick auf einen gerahmten Text an der Stubenwand. Die «Anweisung zum richtigen Leben» des italienischen Autors Giovanni Francesco Soave (1743 – 1806) hat Sablone zum persönlichen Lebensmotto gemacht. «Man muss sich auch daran gewöhnen, Hitze und Kälte auszuhalten und jede Art von Unbequemlichkeit, indem man Faulheit und allzu grosse Verzärtelung meide», heisst es darin.

Zum Autor
Robert Peterhans ist Initiant von «Züri rännt», einer frei zugänglichen Läuferplattform in Zürich. Für sein Engagement wurde er 2017 mit dem Sportpreis der Stadt Zürich in der Kategorie Sportförderung ausgezeichnet. Peterhans lebt in Höngg.

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