Höngger Fauna
Gesponnene Architektur
Spinnen produzieren ihr Baumaterial vor Ort und erstellen daraus ein architektonisches Wunderwerk. Die Netze der Radnetzspinnen fallen jetzt im herbstlichen Morgentau besonders auf und mit etwas Glück entdeckt man darin eine Kreuzspinne.
5. Oktober 2021 — Marianne Haffner
«Meine» Kreuzspinne hat über Nacht ein neues Netz gebaut – ganz ohne Hilfsmittel, lediglich mit ihren Spinndrüsen am Hinterleib und etwas Akrobatik. Zuerst produzierte sie, auf dem Feigenbaum sitzend, einen langen Faden, der sich dank dem Wind am Holzpfosten vis-à-vis verfing. Von der Mitte dieses Fadens seilte sie sich an einem neuen Faden ab, den sie unten an einer Rebenranke befestigte. Das so entstandene Y-förmige Grundgerüst verband sie aussen mit Rahmenfäden. Danach zog sie die Speichen, um dann vom Zentrum her nach aussen eine Hilfsspirale um diese zu spinnen. Aussen angekommen, arbeitete sie sich entlang der Spirale zurück nach innen. Dabei frass sie diese laufend zwecks Wiederverwertung auf und ersetzte sie mit einem klebrigen Fangfaden – und fertig war das Spinnennetz. Alles klar? Versuchen Sie es doch mit einer Zeichnung! Und nebenbei: Für das nächtliche Bauwerk produzierte sie insgesamt vier verschiedene Seidentypen, je nach Funktion von besonders robusten bis klebrigen. Und das alles soll keine halbe Stunde gedauert haben – ich habe es leider verschlafen. Schlafen tut die Spinne seither scheinbar auch, meist in der Netzmitte, ein Vorderbein auf einer Speiche ruhend. Sobald diese vibriert, zupft sie blitzschnell an sämtlichen Speichen, testet so, welche am meisten belastet ist und eilt dann entlang dieser direkt auf die Beute zu. Sollte sie dabei auf einen Fangfaden treten, bleibt sie nicht kleben, denn sie hat zuvor ihre Füsse mit Speichel geschützt. Nun spritzt sie aus mehreren Spinnwarzen gleichzeitig ein ganzes Band von Fäden, dreht das gefangene Insekt darin rasch um seine eigene Achse, bis es wie eine kleine Mumie einbandagiert ist. Durch einen Biss wird die Beute mit Gift betäubt. Danach würgt die Spinne etwas Verdauungssaft darauf und schlürft die aufgelösten Beuteteile auf. Unverdauliches wird fallen gelassen. Und genau so kann es den Spinnenmännchen ergehen, wenn sie sich in herbstlicher Paarungsstimmung dem Weibchen zu wenig vorsichtig nähern. So oder so sterben die Männchen jetzt dann bald. Die Weibchen müssen noch kunstvolle, gelbliche Kokons für ihre Eier spinnen, bevor auch sie sterben. Die Jungen schlüpfen noch in diesem Jahr, überwintern jedoch im schützenden Kokon. Im nächsten Frühjahr verlassen sie diesen und sind erst im übernächsten Jahr geschlechtsreif.
Übrigens: Baldachspinnen und Jungspinnen breiten sich aus, indem sie lange Flugfäden produzieren. Diese werden vom Herbstwind erfasst und transportieren die Spinnen an einen anderen Ort. Und weil die Flugfäden langen, weissen Haaren ähneln, wird diese Jahreszeit auch «Altwybersummer» genannt.
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