Blondierte Nacktschnecke

Frank Frei

Ich habe in dieser Kolumne bisher nicht schlecht ohne Gesicht gelebt, auch wenn gesichtslos zu sein ja nicht gerade als erstrebenswert auf der Best-off-Liste der Charaktereigenschaften figuriert. Nun wurde aber gewünscht, dass ich mich doch etwas farbiger als bislang outen würde, damit man meine kläglichen Elaborate in dieser Zeitung wenigstens mit einem Bild assoziieren könne. Um dann in der Migros nach mir zu spähen? Meinen Briefkasten zuzukleben und mein Meerschweinchen zu klauen? Nein, ich habe nicht genauer nachgefragt, sondern mich ergeben virtuell mit dem Höngger Illustrator Stefan Haller, alias Schlorian, getroffen – und er hat mich dann so eingefangen, wie er mich vor seinem inneren Auge sah. Ich liess ihm freie Hand. Bloss auf meine verspiegelte Sonnenbrille wollte ich nicht verzichten. Und ich bin ganz zufrieden mit diesem Gesicht, denn es ist in seiner Geschlechtslosigkeit brandaktuell.
Oder haben Sie noch den Überblick, was nun eine Frau, was ein Mann, was das dritte Geschlecht oder was ein Transmensch ist – geschweige denn, welches die dazu passenden Rollenbilder und -verständnisse sind? Keine Angst, Sie sind nicht alleine, wenn Sie die Orientierung und den Überblick verloren haben. Wie eine kalte Nacktschnecke im sonnengewärmten Genick beschleicht mich das beunruhigende Gefühl, dass die Diskussion darum, wie man seine eigene Identität in unserer Gesellschaft entdeckt, entwickelt und lebt, um eine Dimension erweitert wurde, die mehr Menschen überfordert als uns lieb sein dürfte. Und wer überfordert ist, schafft sich gerne eine einfachere, übersichtlichere Welt. Kehrt heim an den Stammtisch, treibt sich in Meinungs-Bubbles in Internetforen herum oder wird amerikanischer Präsident. (Ja, meine Nacktschnecke trägt eine blondierte Haartolle.)
Und trotzdem sollte man die Genderdebatte nicht meiden, auch wenn der individuelle Umgang damit, vielleicht gar deren stille innerliche Ablehnung, nicht einfach ist. Denn die Genderdebatte wird noch lange breitdiskutiert, plattgewalzt, angefeindet und bejubelnd hochgekocht werden. Und hoffentlich lebbare Ergebnisse bringen – um dann dem nächsten Diskussionsfeld zu weichen. Ich hingegen bin froh, dass ich persönlich längst entdeckt habe, wer ich bin. Und nun habe ich auch hier ein Gesicht und nicht die Absicht, dieses gleich wieder zu verlieren – was nicht nur in Fernost als grösste Schmach gilt. Und deshalb lebe ich in meiner eigenen Meinungs-Bubble mit der politisch garantiert unkorrekten Überzeugung eines Einzellers: Sei einfach du selbst, du wirst schon jemandem begegnen, der oder die dich so liebt, wie du bist. (Oder bin ich damit auch bloss ein Einzeller in einer Zelle?)

Es grüsst schleichend aus dem Genick
Frank Frei

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