Vereine
«Einkaufen ist eine sehr persönliche Sache»
Die Nachbarschaftshilfe im Kreis 10 «Genossenschaft Zeitgut Zürich Höngg-Wipkingen», oder kurz Zeitgut, hat als Reaktion auf die Corona-Krise unter anderem eine Corona-Plattform lanciert, auf der sich Helfende und Hilfesuchende finden können.
23. April 2020 — Patricia Senn
Natasa Karnath, Geschäftsleiterin der Genossenschaft Zeitgut Zürich Höngg-Wipkingen, arbeitet seit fast sechs Wochen von zu Hause aus und betreut gleichzeitig ihre beiden Jungs Milo (3) und Jannik (5). Seit Zeitgut ihre einfach zu bedienende Plattform für die Bewohner*innen des Kreis 10 online aufgeschaltet hat, haben sich 141 Helfer*innen gemeldet und konnten bislang auf verschiedene Arten zum Einsatz kommen, vor allem als Einkaufshilfe. Der «Höngger» hat mit Karnath darüber gesprochen, was sie in dieser Zeit besonders beeindruckt hat und was sie sich für die Zukunft wünscht.
Frau Karnath, wie funktioniert Ihre Helfer*innen-Plattform genau?
Nach dem Lockdown hat unser freiwilliger Webseiten-Spezialist ein Online-Formular auf unserer Webseite kreiert, mittels welchem man entweder Hilfe anbieten oder Hilfe aufsuchen kann. Wenn man es abschickt, generiert es direkt eine E-Mail an mich und ich kann in Aktion treten und die passenden Menschen zusammenbringen. Man muss dazu sagen, dass die meisten Menschen, die Hilfe benötigen, sich via Telefon melden. Das Online-Formular wird um einiges mehr genutzt, um Hilfe anzubieten – und es haben sich wirklich unglaublich viele Helferinnen und Helfer gemeldet, das ist sehr beeindruckend und schön!
Wie haben Sie sich vernetzt?
Wir arbeiteten auch vor der Corona-Zeit mit den Institutionen wie Spitex, Pro Senectute, den Kirchgemeinden oder auch dem Sozialzentrum zusammen. Nach dem schnellen Ansturm der Helfer und Helferinnen ging ich direkt auf diese Institutionen zu und informierte sie, dass viele motivierte Menschen bereitstünden. Zudem sind wir innerhalb von hilf-jetzt.ch vernetzt und mit der Telegramgruppe Hilfe Höngg in Kontakt.
Wer meldet sich bei Ihnen als Helfer*in?
Dies ist ein bunter Blumenstrauss an Menschen aus der Nicht-Risiko-Gruppe. Die jüngste Einkäuferin ist 16 und die älteste 56 Jahre alt. Es sind, wie oft bei der Freiwilligenarbeit, mehr Frauen dabei, aber nicht dramatisch mehr: Vielleicht 65:35. Von den Berufsgruppen her habe ich das Gefühl, dass diese sehr breit ist; Es sind zum Beispiel Lehrer*innen, Menschen aus der Gastrobranche, Coiffeur-Mitarbeitende, Selbstständige, Studierende. Zusammenfassend: Es sind Bewohner*innen aus dem Kreis 10, die durch die Krise (leider) mehr Zeit haben und diese sinnstiftend einsetzen möchten.
Wird das Angebot genutzt?
Wir konnten 61 Anfragen, die meisten rund ums Einkaufen, abdecken. Mehr als die Hälfte der Helfer*innen würde sich somit noch freuen, irgendwo unterstützen zu können.
Im Vergleich zur Anzahl der Helfenden wird also noch relativ wenig Hilfe gesucht. Wieso ist das so?
Es ist bekannt und wir kennen es alle auch von uns selber: Hilfe anzubieten ist um einiges einfacher als Hilfe anzufragen. Und dann geschieht diese auch noch gratis. Auch die, die den Schritt machen, um sich bei uns Hilfe zu holen, tun sich je nachdem schwer damit anzunehmen, dass es die Helfer*innen freiwillig und aus Solidarität machen und wirklich kein Geld dafür möchten.
Zudem ist das Thema Einkaufen eine sehr persönliche Sache und es gibt Menschen aus der Risikogruppe, die es unter keinen Umständen abgeben möchten und weiterhin selber einkaufen gehen – trotz des grossen Risikos.
Was ist aus Ihrer Sicht die grösste Herausforderung in dieser Zeit?
Ganz klar der fehlende persönliche Kontakt. Unter normalen Umständen lebt die Nachbarschaftshilfe und auch Zeitgut Zürich Höngg-Wipkingen davon, dass Menschen sich persönlich, in Fleisch und Blut treffen und miteinander Zeit verbringen. Dies ging bisher nicht oder sehr minimiert.
Wie unterscheidet sich das Angebot von der Nachbarschaftshilfe, die Sie mit Zeitgut bereits anbieten?
Die Einkäufe oder Botengänge erfolgen praktisch ohne persönlichen Kontakt, es wird alles vorgängig per Mail oder Telefon abgemacht und die Einkäufe vor die Türe gelegt. Auch haben wir einen aktiven Telefondienst ins Leben gerufen: Drei Helferinnen, eine davon selbst aus der Risikogruppe, sind mit Hilfeannehmenden, die das wünschen, im regelmässigen Telefonaustausch, einfach, um zu plaudern und durch etwas Ablenkung eine Freude zu machen.
Welches Ereignis wird Ihnen besonders in Erinnerung bleiben?
Ich werde die erste Phase nach dem Lockdown nie vergessen, diese Kraft der Solidarität, die mich im Positiven fast umgehauen hat. In der Zeit vor Corona arbeitete ich im Operativen oft alleine – nun war ich eingebettet in dieser Menschlichkeit aus dem Kreis 10. Im Nu und fast mit Leichtigkeit konnte ich ziemlich schnell ein Corona-Team bilden, in dem unglaublich engagierte und soziale Menschen sich hineinbrachten und noch hineinbringen.
Denken Sie, dass sich die Menschen, die heute helfen, auch in Zukunft in der Nachbarschaftshilfe engagieren werden?
Es wäre natürlich wie ein Sechser im Lotto, wenn alle bleiben würden! Natürlich weiss ich, dass das nicht realistisch ist und einige sich nach der Coronakrise verabschieden werden. Aber wenn ein paar durch die entstandenen Kontakte den süssen Duft der Nachbarschaftshilfe riechen würden und sich weiterhin für ihre Mitmenschen im Kreis 10 engagieren wollten – da wäre bereits viel gewonnen.
Sie arbeiten von zu Hause und betreuen gleichzeitig Ihre beiden Söhne – funktioniert das gut?
Im Grossen und Ganzen ja, mein Mann und ich hätten gedacht, dass es noch stressiger sein würde. Wir sind zu zweit und wechseln uns mit dem Homeoffice ab. Natürlich musste es sich am Anfang einspielen, aber so ist das bei grossen Änderungen. Wir hatten auch kein Pult und haben in letzter Sekunde am Tag vor dem Lockdown eines gekauft. Nun verschönert es unser Schlafzimmer (lacht).
Wie reagieren Ihre Kinder auf diesen Ausnahmezustand?
Die machen das grossartig. Mir wurde wieder bewusst, dass Kinder wie kleine Chamäleons sind und sich schnell an neue Situationen gewöhnen können, viel schneller als wir Erwachsene. Mein grosser Sohn, der fünf ist, beschäftigt sich etwas mehr mit dem Virus und stellt einige Fragen, der Kleine ist da noch wenig beeindruckt und geniesst einfach die Kita-freie Zeit.
Was vermissen Sie am meisten?
Viele kleine Dinge, die man vorher als normal ansah. Ein ausgedehnter Spaziergang am See, unser gutes ZVV-Netz, mal ein Abendessen auswärts. Auch sehr mein Basketball-Team, ich spiele in einem Verein. Am meisten vermisse ich aber den persönlichen Kontakt, sei es bei der Arbeit aber auch Privat. Es wäre schön, wieder Menschen, die ich gerne habe, mal wieder fest zu umarmen.
Meine Kinder vermissen besonders die Familie, wir haben beide unsere Familien ausserhalb von Zürich. Langsam werden wir etwas müde von der Video-Telefonie, auch wenn wir es schätzen, dass es sie gibt. Aber wir benutzen sie lieber als eine Ergänzung als ausschliesslich.
Was wünschen Sie sich für die Zeit nach Corona?
Dass durch das gemeinsam Erlebte und Überstandene ein Gegentrend zur anonymen Gesellschaft entsteht, wir uns gegenseitig mehr im Blick haben und einander helfen.
Vielen Dank für das Gespräch und weiterhin alles Gute!
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