Eine Gesellschaft für alle

Am diesjährigen Apéro der ESPAS sprach Psychoanalytiker Prof. Dr. Peter Schneider zum Thema Inklusion und warf ein paar grundsätzliche Fragen auf, die für reichlich Gesprächsstoff sorgten.

Professor Dr. Peter Schneider warf in seinem Vortrag auf unterhaltsame Art kritische Fragen auf.

Einmal im Jahr richtet die ESPAS Stiftung an ihrem Hauptsitz in Höngg einen Abend für ihre Kunden aus und lädt dazu Persönlichkeiten ein, zu einem aktuellen und meist zukunftsweisenden Thema ein Referat zu halten. «Unser Wunsch ist es, dass die Gäste nach Hause gehen und etwas mitnehmen, sodass sich der Besuch wirklich für sie gelohnt hat», sagt Rita Stutz, Bereichsleiterin Dienstleistungen/Marketing. An diesem Abend spricht Psychoanalytiker Peter Schneider, dessen Stimme man von der Presseschau im Radio SRF kennt und der in seiner Kolumne im Tagesanzeiger pointiert Leserfragen beantwortet. Es verspricht, ein unterhaltsamer Abend zu werden. Der Begriff «Integration» ist den meisten geläufig. Er bedeutet, dass zum Beispiel Menschen mit Beeinträchtigungen in Systeme wie Schulen oder Arbeitsumfelder eingegliedert werden, die für die Allgemeinheit erstellt wurden. Das Gegenteil davon ist die Separation, bei der diese Menschen einer eigens für sie erstellten Institution zugeteilt werden. Inklusion dagegen geht von der Annahme aus, dass alle Menschen gleichberechtigte Individuen mit unterschiedlichen Eigenschaften sind, welche nicht wertend gegeneinander aufgewogen werden können. Die Rahmenbedingungen dieser heterogenen Gesellschaften sollen so gestaltet sein, dass jeder daran teilhaben kann.

Behinderung oder doch nicht eher Besonderheit?

Peter Schneider ist Psychoanalytiker, Satiriker, Buchautor und eine Koryphäe im Bereich Inklusion. Er würde sich selber nicht als Inklusions-Euphoriker bezeichnen, meint er gleich zu Beginn seines Vortrags. Als er das erste Mal – während einer Vertretungsprofessur in Bremen – mit dem Thema in Berührung gekommen sei, sei er nicht gerade Feuer und Flamme dafür gewesen. Mittlerweile stehe er aber klar auf der Seite der Befürworter, was ihn nicht davon abhalte, die Vision durchaus kritisch zu hinterfragen. Als Psychoanalytiker liegt es nahe, dass er sich an diesem Abend auf psychische Beeinträchtigungen konzentriert, auch wenn es für Personen mit einer körperlichen Beeinträchtigung nicht einfacher ist. Er erzählt von einer Gruppe von Autisten, die einen eigenen Blog mit dem Namen «Idiotenspeak» betreiben. Es sind Menschen, die aufgrund ihrer Erkrankung nicht mündlich interagieren können, was aber keinesfalls bedeute, dass sie nicht kommunizieren wollen. Er traf sie zu einem Dialog, bei dem sie ihm schriftlich via App auf seine Fragen antworten konnten. Dabei stellte sich heraus, dass sie sogar sehr eloquent «sprechen» können und keineswegs «intellektuell beeinträchtigt» sind, wie es einer der Blogger nennt. In diesem Fall könnte die Inklusion über das Werkzeug Computer führen. Natürlich wird das nicht für jeden Autisten zutreffen, denn «wer einen Autisten kennt, kennt EINEN Autisten», schrieb Schneider einmal in seiner Kolumne im Tagesanzeiger. «Es stellt sich die Frage, inwieweit Autismus eine Behinderung ist und inwieweit es sich um eine Besonderheit handelt», wirft er jetzt in den Raum. Und das lässt sich noch weiterdenken, nämlich wenn es um psychische Erkrankungen wie Depressionen geht. Fragte man sich mit Freud, «was das Gesunde wäre», müsste man, gemäss Schneider, antworten: Alle Krankheitsbilder zusammen, aber in einem ausgewogenen Verhältnis. Eine psychische Störung tritt dann auf, wenn dieses Verhältnis aus dem Lot gerät und eine Eigenschaft entgleist. Mit anderen, etwas undiplomatischeren Worten: «Wir haben potentiell alle einen an der Waffel».

Die Betroffenen zu Wort kommen lassen

Immer wieder stellt Schneider in seinem Vortrag direkt oder indirekt das Konzept von «normal» versus «gestört» infrage. Immerhin gehe man davon aus, das fünf Prozent der Gesellschaft eine Persönlichkeitsstörung aufweisen, und Führungskräfte in Firmen oder Menschen in politischen Positionen seien davon nicht ausgeschlossen. Was also unterscheidet Leute mit einer diagnostizierten Störung von anderen Menschen, die einfach so «schwierig im Umgang» sind? Inklusion im Arbeitsumfeld bedeute oft, dass alle Mitarbeitenden über das Krankheitsbild der betroffenen Person informiert würden, eine Beschneidung der Privatsphäre, die sich ein «normaler» Mensch nicht gefallen lassen müsste. Der diagnostizierte Kranke wird entmündigt, weil er nicht mehr gefragt wird, weil Entscheidungen über seinen Kopf hinweg getroffen werden. Eine realistische Inklusion müsse im Auge behalten, dass die Arbeitswelt nicht homogen ist, sondern jetzt schon aus völlig unterschiedlichen Menschen besteht. Nur aus der Aussenperspektive über Inklusion zu reden, sei nicht genug, man müsse die Betroffenen in den Prozess miteinbeziehen, etwas, das überhaupt nicht selbstverständlich ist, wie der erwähnte «Idiotenspeak» zeigt. Allerdings kam darauf Kritik aus dem Publikum. Von einer Frau, die selber von einer körperlichen Beeinträchtigung betroffen ist, welche monierte – zu Recht – dass auch an diesem Anlass nur über die Menschen mit Beeinträchtigungen gesprochen worden sei, anstatt mit ihnen zu sprechen oder sie selber zu Wort kommen zu lassen. Nach diesem Schlussvotum mit reichlich Gesprächsstoff versorgt, wurden die Gäste zu einem reichhaltigen Apéro geladen, das Küchenteam erwartete sie bereits mit einer prächtigen Paella – und frisch zubereitetem Pulpo sowie anderen Meeresfrüchten. Der Wunsch der ESPAS, ihre Kunden einen Abend zu schenken, der nachhallt, dürfte in Erfüllung gegangen sein.

ESPAS ist ein Sozialunternehmen mit jahrzehntelanger Erfahrung in der Arbeitsintegration. Die Stiftung arbeitet für und mit Menschen mit psychischen oder körperlichen Erwerbsbeeinträchtigungen, die den Weg zurück in den ersten Arbeitsmarkt oder einen angepassten/geschützten Arbeitsplatz suchen. Der Fokus liegt auf der wirtschaftlichen und sozialen Integration. Das ist eine gesellschaftliche Verpflichtung und der Auftrag von ESPAS.

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