Höngger Fauna
Ein Wunderwurm
Letzthin sah ich auf unserem Weg zwischen den Herbstblättern und Mostbirnen einen Regenwurm, der etwa einen halben Meter lang war, ausgestreckt dalag und in der Mitte zwei Köpfe hatte.
5. November 2020 — Marianne Haffner
Zugegeben, ich gehöre zu den Leuten, die Regenwürmer auf dem Trottoir «retten» und sie beim Umgraben im Garten an eine sichere Stelle tragen. Wie sie ausschauen, weiss ich schon, aber so einen skurrilen Wurm hatte ich noch nie zuvor gesehen. Also rief ich den Hausfotografen und stürzte mich in die Literatur. Bald fand ich heraus, dass ich zwei sich paarende Würmer gefunden hatte. Weil sie im Boden in ihren mehreren Metern tiefen, senkrecht verlaufenden Gängen völlig alleine leben, kommen Regenwürmer zur Partnersuche an die Oberfläche. Das tun sie bei Geschlechtsreife, mit ungefähr ein bis zwei Jahren. Erst dann haben sie einen Gürtel zwischen dem 27. und 35. Körpersegment – man zähle! Als Zwitter besitzt jeder Wurm weibliche und männliche Geschlechtsorgane. Bei der Paarung legen sie die vorderen Bauchseiten aneinander und festigen ihre Bindung mit Gürtelschleim. Dann tauschen sie Spermien aus, die jeder in einer Tasche speichert. Nach Stunden trennen sich die beiden. Tage später produzieren die Gürteldrüsen einen «Kokon». Dieser wandert kopfwärts, wobei ihm zuerst ein Ei und weiter vorne Spermien zugegeben werden. Beim Kopf des Wurmes angekommen, fällt er ab. Das Embryo ernährt sich von Proteinen des Kokoninnern. Drei Wochen später schlüpft der junge Wurm und lebt von nun an ganz nach «Regenwurmart». Regenwurmarten gibt es in der Schweiz rund 30. Von «unserem», dem Tauwurm Lumbricus terrestris, leben über 6 Millionen in einer fussballfeldgrossen Weide, wo sie für die Bodenqualität enorme Leistungen erbringen. Das kann man jetzt wieder wunderbar beobachten. Das um einen Baum gerechte Herbstlaub ist bis im Frühling verschwunden. Es wird nicht vom Wind verweht, sondern von den Regenwürmern verzehrt. Nur, Laub fressen kann ein Wurm nicht, denn er hat ja keine Zähne. Also zieht er die Blätter in seine Wohnröhre, eine wahre Mini-Kompostieranlage. Ihre mit Kot tapezierten Wände bieten beste Lebensbedingungen für Mikroorganismen. Diese verdauen die Blätter so vor, dass sie der Wurm schliesslich selber fressen kann. So produzieren Regenwürmer jährlich bis zu 60 Kilogramm wertvollsten Humus pro Quadratmeter Boden. Zusätzlich tragen ihre etwa 1000 Gänge darin wesentlich zur Bodenlockerung und damit zur Versickerung von Regenwasser bei und schützen vor Überschwemmungen. Hut ab vor den Regenwürmern. Ich werde sie künftig mit grösstem Respekt vor dem Tod im UV-Licht der Sonne «retten».
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