«Ein kleines gallisches Dorf in Zürich»

Joyce Otazo ist seit Kindesalter fest in Höngg verwurzelt. Für immer hierbleiben möchte sie aber trotzdem nicht.

«Höngg bräuchte eine stärkere Durchmischung der Generationen» – Joyce Otazo im Pärkli beim Meierhofplatz.

Als ich drei war, zogen meine Mutter und ich von Wiedikon in eine ABZ-Siedlung auf den Hönggerberg. Für meine Mutter war es wahrscheinlich leicht, eine Genossenschaftswohnung zu bekommen, weil sie alleinerziehend war.

Ich ging im Bläsi in den «Chindsgi» und dann in die Primarschule, tanzte kurz Ballett im Ballettstudio Katja und ging ins Geräteturnen beim Turnverein Höngg. Ausserdem trat ich als Sechsjährige der Pfadi bei. Das ist jetzt 16 Jahre her und ich bin immer noch dabei. Zwar nicht mehr so aktiv, aber durch meinen Job als Jugendarbeiterin bei der Kirche Heilig Geist bin ich immer noch sehr involviert ins Pfadigeschehen. Meine Aufgabe ist es, zwischen Pfadis und Kirche zu vermitteln, aber ich bin auch oft noch in Pfadilagern oder an grossen Pfadiaktivitäten wie dem Familienopenair vor ein paar Wochen dabei.

Nach der Primarschule habe ich Höngg zwischenzeitlich etwas «verloren». Ich spielte im Turnverein Unterstrass Handball und ging in Oerlikon ins Gymi, so verschob sich mein Freundeskreis zunehmend nach Unterstrass und Zürich-Nord. Durch die Pfadi blieb der Bezug zum Quartier aber immer erhalten. Das änderte sich auch nicht, als mein Mami und ich nach Wipkingen zügelten.

Nach zwei Jahren Schule in Oerlikon wechselte ich nach Hottingen ans Wirtschaftsgymi. Ich wollte einen Facettenwechsel und in Hottingen gab es eine Akzentklasse Ethik-Ökologie. Das heisst, ich besuchte das wirtschaftlich-rechtliche Profil, hatte aber quartalsweise etwa eine Ökologiewoche oder einen Sozialeinsatz. Einmal reisten wir in ein kleines ungarisches Dorf und lebten dort eine Woche lang bei verschiedenen Familien verstreut. Kurz vor der Matura fing ich ausserdem an, in der Kinderkrippe bei meiner Mutter zu arbeiten. Teils half ich dort in der Buchhaltung, teils bei der Betreuung mit. Alles in allem blieb ich gut drei Jahre lang dort. So konnte ich mir mein Leben finanzieren – während dem Maturajahr zog ich nämlich in meine erste eigene Wohnung. Die war beim Frankental, und so bin ich doch wieder in Höngg gelandet.

Nach einer Weile zogen mein Freund und ich zusammen nach Wipkingen. Vor einem Jahr hat es uns aber durch ganz viel Glück wieder nach Höngg verschlagen. Ich hatte im Tagblatt eine Stadtwohnung am Meierhofplatz entdeckt, wir bewarben uns – und bekamen sie tatsächlich! Das sprach sich dann auch schnell herum. Einmal stand ich im Denner an der Kasse, als eine entfernte Bekannte mich grüsste und fragte: «Du wohnst doch jetzt am Meierhofplatz?» Eine Freundin hatte ihr davon erzählt. Höngg ist eben doch ein Dorf! Hier ist fast nichts anonym. Man ist in seinem Kuchen und die Leute wissen alles übereinander. Das finde ich aber nicht schlimm, es ist vielmehr interessant. Der Dorfcharakter zeigt sich auch darin, wie die Leute in meinem Alter, die in Höngg aufgewachsen sind, alle immer noch mega Höngg-orientiert sind… ein kleines gallisches Dorf in Zürich. Wer von zu Hause auszieht, bleibt entweder im Quartier oder möglichst in der Nähe; nur bloss ja nicht über den Hügel. Das würde ich auch nicht wollen, obwohl beispielsweise Oerlikon immer lebendiger wird. Es ist einfach ungewohnt hinter dem Hügel.
Es muss aber auch nicht für immer Höngg sein. In ein paar Jahren würde ich gerne auf unbestimmte Zeit reisen gehen – überall dahin, wo es mich hintreibt. Sicher als erstes für längere Zeit nach Bolivien, wo mein Grossmami wohnt. Im Moment sehe ich sie nur alle zwei Jahre, und ich würde die Zeit gerne auskosten, die uns noch bleibt.

Zuerst aber schliesse ich meine Ausbildung ab. Ich studiere soziale Arbeit im ersten Semester und arbeite in der Katholischen Kirche Heilig Geist als Jugendarbeiterin. Dort habe ich viel mit der reformierten Jugendarbeit und dem GZ Höngg zu tun, weil wir gemeinsame Angebote wie beispielsweise den Friday Kitchen Club haben, der super läuft. Zur Jugendarbeit bin ich durch meinen Vorgänger gekommen. Er wusste, dass ich mich schon lange für dieses Arbeitsfeld interessierte und vorhatte, soziale Arbeit zu studieren. So durfte ich mich bei der Kirche vorstellen gehen. Die Arbeit dort und das Studium sind eine lässige Abwechslung, und ich habe dadurch tolle neue Leute kennengelernt.

Zwischen Matura und Studium habe ich aber zuerst ein paar Zwischenjahre eingelegt. In dieser Zeit fing ich an, Yoga zu machen. Damals kam auch mein Vater wieder in mein Leben, nachdem wir lange keinen Kontakt mehr gehabt hatten. Er ist Yogalehrer und in einem Kennenlernversuch reiste ich mit ihm und meinem kleinen Bruder, der bei ihm aufgewachsen ist, in ein Yogaretreat für Familien. Bald darauf fragte er mich, ob ich Lust hätte, mich zur Yogalehrerin ausbilden zu lassen. So studierte ich eineinhalb Jahre lang, etwas über 200 Stunden, und darf jetzt Yoga unterrichten. Ich habe zwar wenig Zeit dazu, durch meine Kontakte kann ich aber immer wieder Vertretungen übernehmen. Das macht mir Spass und ich fühle mich wohl dabei. Lustigerweise habe ich mir auch einmal überlegt, Primarlehrerin zu werden, dann aber entschieden, dass ich mich nicht in die Lehrerinnenrolle begeben möchte. Jetzt ist es trotzdem passiert.
In meiner Freizeit bin ich gerne im Quartier unterwegs. Ich habe so meine Lieblingsorte: Das Werdinseli, der Rebberg und der Wald. Nur ein weiteres Café würde ich mir wünschen. Eins, in dem Jung und Alt sich begegnen können. Das fehlt Höngg nämlich, finde ich; kulturelle und generationale Durchmischung. Es gibt aber gute Initiativen. Das Frankental ist in den letzten Jahren beispielsweise viel lebendiger geworden. So wohne ich gerne noch ein paar Jahre lang hier, bevor es auf Reisen geht.

In diesen monatlichen Beiträgen werden ganz normale Menschen aus Höngg porträtiert: Man braucht nicht der Lokalprominenz anzugehören und muss auch nicht irgendwelche herausragenden Leistungen vollbracht haben, nein, denn das Spezielle steckt oft im scheinbar Unscheinbaren, in Menschen «wie du und ich».
So funktioniert’s: Die zuletzt porträtierte Person macht drei Vorschläge, an wen der Stab der Porträt-Stafette weitergereicht werden soll. Die Redaktion fragt die Personen der Reihe nach an und hofft auf deren Bereitschaft.
Sollte die Stafette abreissen, sind wir froh, wenn auch Sie uns mögliche Kandidat*innen melden. Kontaktangaben bitte per Mail an redaktion@hoengger.ch oder Telefon 044 340 17 05.

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