Politik
Ein grosses Wort vom Politgeographen
In einem Interview hat der Wipkinger Politgeograph Michael Hermann das Wort «überlappend» verwendet. Damit trifft er – wohl ungewollt – den Wesenskern der SVP-Politik.
5. Oktober 2016 — Eingesandter Artikel
«Eine Antwort auf die Frage, was die Schweiz zusammenhält ist, dass die Konflikte immer wieder andere Richtungen einnehmen und sich zwar überlappen, aber nicht ganz decken», sagte Hermann im Interview mit der Wipkinger Zeitung von letzter Woche. Als gelernter Geograph hat Michael Hermann ein Auge für Grenzen. Innerhalb der Schweiz bestehen viele Grenzen: Kantone, Gemeinden, Wahlkreise, Kirchenpflege, Schulkreise und viele weitere. Das Merkmal ist, dass diese Grenzen nicht am gleichen Ort verlaufen, sondern sich eben überlappen. Der Schulkreis Waidberg entspricht nicht dem Wahlkreis 10 der Quartiere Wipkingen und Höngg, und die Kirchenpflege ist nicht für das gleiche Gebiet zuständig wie der Stadtkreis. Die Stadtpolizei deckt nicht den gleichen Rayon ab wie der Bezirksrat, die Feuerwehr ist nicht für das gleiche Gebiet zuständig wie die Kehrichtabfuhr und die Kantonsspitäler sind wieder anders aufgestellt. Was auf den ersten Blick konfus aussieht, ist gelebter Föderalismus – und ein wesentlicher Grund, weshalb sich die Schweiz besser entwickelt als viele andere Staaten. Als Gegenbeispiel zur Schweiz nennt Hermann Belgien. Dort «entspricht der Sprachgraben auch dem Wirtschaftsgraben, dazu kommt neu der Föderalismus, den sie auch entlang dieser Grenzen eingeführt haben». In Belgien liegt die Grenze für die meisten politischen Fragen auf derselben Linie: Flamen und Wallonen, Sprachgrenze und politische Wahlkreise verlaufen am gleichen Ort. Dadurch überlappen sich die Themen und die Konflikte nicht mehr. Jeder Streit endet am gleichen Graben – bis dieser unüberwindbar wird.
Überlappende, konkurrierende Hoheiten
In der Schweiz reden alle zu jedem Thema mit – und doch gibt es nirgends einen unüberwindbaren Graben. Beispiel: Die Sprachgrenze in Bern und Fribourg liegt nicht auf der Kantonsgrenze. Ein Sprachenstreit verläuft nicht an der gleichen Linie wie ein Schulstreit. Die Überlappungen schaffen Verbundenheit und Kooperation. Ein Streit bei dem einen Thema darf nicht eskalieren, weil man beim nächsten Streit vielleicht wieder auf den anderen angewiesen ist. Die Ursache sind die politischen Gebietskörperschaften in der Schweiz, die nicht einheitlich geographisch, sondern föderalistisch nach Themen und Aufgaben organisiert sind. Den eidgenössischen Föderalismus gibt es seit jeher, ein Konzept wurde an der Universität Zürich wissenschaftlich entwickelt von Bruno S. Frey und Reiner Eichenberger. Es trägt den sperrigen Namen «FOCJ», «Functional Overlapping Competing Jurisdictions» oder deutsch: «Funktional überlappende, konkurrierende Hoheiten». Die Idee ist, dass nicht alle Aufgaben (Schule, Feuerwehr, etc.) und Hoheitsrechte (von Steuererhebung bis Hundeleinenzwang) im gleichen geographischen Gebiet organisiert sind, sondern sich eben überlappen.
Martin Bürlimann, Ökonom, Gemeinderat SVP
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