Ein ewiger Kampf

Die Geschichte von Menschen mit einer Behinderung ist zu einem grossen Teil eine Geschichte der Ausgrenzung und Diskriminierung. Massnahmen zu ihrer Unterstützung und ihrem Schutz mussten hart erkämpft werden.

An einer 1. Mai-Feier in Zürich 1955, Umzugsteilnehmer fordern auf einem Transparent: «Her mit der Invaliden u. Mutterschaftsversicherung».
Kranke und Behinderte werden zu einer Thermalkur gebracht: Flugblatt aus der Chronik des Chorherrn Johann Jakob Wick, 16. Jahrhundert.
Frauen in einer Blindenwerkstätte in St. Gallen bei der Bürstenproduktion, 1931.
Männer in einer Blindenwerkstätte in St. Gallen bei der Korbflechterei, 1931.
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In früheren Jahren gehörten Behinderungen zum Alltag vieler. Fehlende medizinische Versorgung oder mangelnde Ernährung hatten zur Folge, dass schwere Geburten, Krankheiten oder Unfälle oft zu bleibenden Schädigungen führten. Damals wurden behinderte Menschen entweder nach Art des Gebrechens mit zum Teil abwertenden Begriffen wie «Krüppel» oder «Narr» beschrieben, oder mit breiteren Begriffen wie «arm», «krank» oder «bedürftig». Gewisse Behinderungsarten wurden sogar mit dem Wirken teuflischer oder überirdischer Kräfte in Verbindung gebracht.

Hofnarren und Bettler

Im Mittelalter erstaunten Menschen mit einer Behinderung als armlose Schreiber, blinde Musiker oder taubstumme Maler mit ihren Fähigkeiten. Sie weckten dabei sowohl Aufsehen und Faszination als auch Ablehnung und Schrecken. Die im Mittelalter bereits verbreitete Arbeitsteilung ermöglichte diesen Menschen jedoch teilweise auch ein Auskommen in handwerklichen Berufen. Die Mehrheit war aber auf gesellschaftliche Unterstützung angewiesen. Dabei wies die Almosenlehre den behinderten Menschen, die in Städten damit teilweise zu einem Existenz-sichernden Einkommen gelangten, einen Platz in der Gesellschaft zu. Ein grösserer Teil der Menschen mit einer Behinderung war jedoch zu einem ehr- und rechtslosem Dasein gezwungen, zum Beispiel auf Jahrmärkten oder als Hofnarren.
Ab dem 16. Jahrhundert versuchten die Behörden, das Betteln zu unterbinden. Dabei bemühten sie sich, auch behinderte Bettler*innen weg von der Strasse zu bringen. Diese wurden in Spitäler aufgenommen, waren auf die knappe Unterstützung der Gemeinden angewiesen oder zum Arbeiten angehalten. Da aber für viele Menschen mit Behinderung Betteln die einzige Überlebenschance war, waren die Bemühungen des Staates nicht besonders erfolgreich. Hinzu kam, dass es vielerorts üblich war, behinderten Menschen eine Ausnahmeerlaubnis zum Betteln zu geben. Im Gegensatz zu arbeitsfähigen Bettler*innen galten diese nämlich als «würdige Arme».
Dabei war die Betreuung behinderter Menschen in erster Linie Sache ihrer Angehörigen. Das war natürlich nicht in allen Fällen möglich, dann galt die Regel, dass die Gemeinde Unterstützung leisten sollte. Diese Leistungen waren je nach Gemeinde sehr unterschiedlich und bestanden aus gelegentlichen Geldspenden, Austeilungen von Mahlzeiten und Lebensmittel oder aus der Gewährung von Spitalpfründen. Fremden Bettler*innen wurde nicht geholfen, vielmehr wurden sie vertrieben, da die Gemeinden nur ansässigen Bettler*innen zur Hilfe verpflichtet waren. Aber auch dieser Pflicht wurde teilweise nicht nachgegangen, wie das Beispiel von Höngg zeigt: Kranke, gehunfähige Bettler wurden nicht in die Stadt ins Spital gefahren, sondern diese «Kunden» wurden einfach an der Grenze zu Wipkingen abgeladen (siehe Höngger vom 31.05.2018).

Das Aufkommen fördernder Institutionen

Mit der Aufklärung kam der Glaube an die Bildungsfähigkeit des Individuums auf, was die Wahrnehmung behinderter Menschen beeinflusste und zur Entstehung der Heilpädagogik führte. Bereits im 17. Jahrhundert entstand die Idee, Taubstumme zu fördern, in Tat umgesetzt wurde dies in der Schweiz jedoch erst 1777 mit der Gründung einer Taubstummenanstalt in Schlieren. Durch privat und religiös motivierte Initiative wurden Anfang des 19. Jahrhunderts weitere Institutionen zur Förderung behinderter Kinder eröffnet. Darunter waren Anstalten für Sinnes-behinderte Kinder, wie 1809 die Blindenschule in Zürich, später für geistig behinderte Kinder, wie 1849 eine Anstalt für kretine Kinder bei Interlaken, und noch später auch für körperlich behinderte Kinder, wie 1864 das Mathilde Escher-Heim, ebenfalls in Zürich. Es kamen immer mehr Fördermassnahmen auf, beispielsweise das Unterrichten von Braille-Schrift oder der Laut- und Gebärdensprache. 1874 folgte die Aufnahme der allgemeinen Schulpflicht in die Bundesverfassung mit einer Einführung von Hilfsklassen und Sonderschulen.

Das Erkämpfen der Invalidenversicherung

Mit der Industrialisierung kamen neue Behinderungsursachen, unter anderem wegen Kinderarbeit, schlechten Arbeitsbedingungen und Unfällen in den Fabriken. Durch die Arbeiterbewegungen konnten die Arbeitsbedingungen verbessert werden, die Haftpflicht der Unternehmen blieb jedoch begrenzt. Erst mit der Unfallversicherung 1918 wurden solche Menschen entschädigt. Die Reichweite dieser Versicherung blieb beschränkt, nur ein Teil der Beschäftigten war versichert. Zusätzlich waren Frauen und Menschen mit Geburtsgebrechen davon ausgeschlossen. 1919 wurde im Parlament die Einführung der Invalidenversicherung (IV) mit einem negativen Ausgang diskutiert, worauf verschiedene in der Behindertenfürsorge tätige Gruppen und Vereine gegründet wurden. Der Dachverband «Vereinigung für Anormale», später Pro Infirmis, leistete vielen behinderten Menschen bis zur Einführung der IV vor allem finanzielle Hilfe. Die IV wurde erst 1959 eingeführt, nach langer Vorgeschichte und auf Druck von Behindertenorganisationen. Diese Versicherung schliesst auch Personen mit einer geistigen Beeinträchtigung und Geburtsgebrechen mit ein. Die bescheidenen Leistungen der IV wurden in Folge wiederholt ausgebaut.

Eugenische Zwangssterilisation

Nach 1900 kamen im Umgang mit behinderten Menschen jedoch neue Ängste auf. Entdeckungen und Annahmen der Erbforschung führten dazu, dass sie als «minderwertig» tituliert wurden. Innerhalb der Psychiatrie und Heilpädagogik kamen Bestrebungen zur Verhütung «erbkranken Nachwuchses» auf, was konkret Massnahmen wie Heiratsverbote und Sterilisationen zur Folge hatte. Das eugenische Paradigma besagte, dass der Prozentsatz an geisteskranken Menschen ohne diese Massnahmen zunehmen würde. An einer Jahresversammlung der Schweizer «Irrenärzte» 1905 wurde gemeinsam beschlossen, die Unfruchtbarmachung der «Irren» sei wünschenswert und bedürfe einer gesetzlichen Regelung. Es kam schlussendlich nur in Waadt zu einer solchen Regelung, die Sterilisationen wurden dennoch in allen psychischen Kliniken durchgeführt. Anfangs des 20. Jahrhunderts wurden in der Schweiz deshalb zahlreiche geistig behinderte Menschen, meist Frauen, zwangssterilisiert. Das für diese Sterilisationen juristisch erforderliche Einverständnis verschafften sich die Behörden mitunter durch Überredung oder Erpressung. Fürsorgeempfänger*innen wurde beispielsweise mit dem Verlust der Unterstützung gedroht, anderen mit einer Anstaltsverwahrung. 1922 forderte Alfred Hauswirth in einer Motion im Grossen Rat des Kantons Bern sogar die Tötung von Menschen mit einer Behinderung, was weder in der Presse noch im Rat einen allgemeinen Sturm der Entrüstung auslöste. Auch nach dem zweiten Weltkrieg wurden solche Sterilisationen noch ausgeführt. Bald darauf führten jedoch Fälle in der psychiatrischen Klinik St. Urban zu einer öffentlichen Debatte: Dabei wurden Personen, die von Ärzten als «normal intelligent» eingestuft worden waren und sich ausdrücklich gegen eine Sterilisation ausgesprochen hatten, sterilisiert. Dies löste heftige Diskussionen aus. Die Praktiken wurden in der Schweiz 1980 vollständig eingestellt. Erst 2000 erklärte der Nationalrat diese Vorgänge als rechtswidrig, darauf wurde den Opfern das Recht auf Entschädigung zugesprochen.

Gleiche Rechte für behinderte Menschen

Demnach blieb nicht nur die Sozialpolitik, sondern auch die IV lange Zeit Angelegenheit von Verwaltungsbeamten, Juristen, Ärzten und Versicherungsmathematikern, die Betroffenen selber hatten wenig zu sagen. Im Anschluss an die 68-er Jahre stellte eine jüngere Generation von engagierten Menschen mit Behinderung die Definitionsmacht der Behörden jedoch zunehmend in Frage. Auf öffentlichen Druck dieser Bewegungen hin wurde 1995 eine parlamentarische Initiative eingereicht, die ein ausdrückliches Diskriminierungsverbot und ein Gleichstellungsgebot für behinderte Menschen forderte. Unzufrieden mit den Ergebnissen der parlamentarischen Beratungen lancierten die Behindertenbewegungen 1998 die Volksinitiative «Gleiche Rechte für Behinderte». Parallel dazu war die Reform der Bundesverfassung im Gang und dank des öffentlichen Drucks zusammen mit der drohenden Initiative flossen wesentliche Teile der Initiative in die neue Verfassung ein. Dank weiterem Engagement der Behindertenorganisationen konnte 2004 das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) durchgesetzt werden. Dieses Gesetz fordert den Zugang zu öffentlichen Bauten, zum öffentlichen Verkehr und zu Verwaltungsdienstleistungen. Zusätzlich stellt es die Förderung der Integration und Autonomie ins Zentrum.
2014 ratifizierten beide Parlamentskammern die UNO-Behindertenrechtskonvention. Dies war für Behindertenorganisationen nochmals ein Meilenstein, da diese UNO-Konvention 2006 verabschiedet worden war und lange für die Unterzeichnung dieses Menschenrechtsabkommens gekämpft werden musste. Mit einem Beitritt zu diesem Übereinkommen verpflichtete sich die Schweiz, die Hindernisse zu beheben, mit denen Menschen mit einer Behinderung konfrontiert sind, sie gegen Diskriminierung zu schützen und ihre Inklusion und Gleichstellung in der Gesellschaft zu fördern. Der Nationalrat beschloss 2019 trotzdem eine Kürzung der Elternzulage, das heisst, Zusatzbeiträge für IV-Rentner mit Elternpflichten sollen von 30 auf 40 Prozent sinken. Diese Ereignisse zeigen: Die Diskussion um die Rechte von behinderten Menschen ist noch nicht beendet.

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