Dagmar schreibt
Das Huhn in der Jackentasche
Unsere Redaktorin Dagmar Schräder schreibt über die grossen und kleinen Dinge des Lebens. Heute über ein kleines Küken, das einen etwas holprigen Start ins Leben hatte.
17. Mai 2025 — Dagmar Schräder
Vor einigen Wochen schrieb ich an dieser Stelle über die eskalierenden Frühlingsgefühle in meinem Hühnerhof. Heute nun will ich über die Folgen dieser romantischen Eskapaden berichten. Denn nur wenig später fing eine der Hennen an zu brüten. Setzte sich in einem Nest auf vier Eier und stand nicht mehr auf. Drei Wochen lang sass sie da, frass kaum noch und konzentrierte sich eisern auf ihre Aufgabe.
Am 21. Tag wurde sie für ihre Hingabe belohnt: Ein Ei war angeknackst, ein zaghaftes Piepsen zu vernehmen. Und schon am nächsten Morgen war die Henne nicht mehr allein. Unter ihren dichten Federn schmiegte sich ein herzallerliebstes Küken eng an seine Mama. Am kommenden Tag erhielt es Gesellschaft von einem Geschwisterchen, am Tag darauf folgte nochmal eins.
Doch nachdem die drei ausgeschlüpft waren, verlor die Henne das Interesse am letzten noch verbliebenen Ei. Sie hatte nun eine neue Aufgabe, musste ihren Kindern die Welt zeigen.
Dass da noch jemand war, der gerade im Begriff war auszuschlüpfen, war von Mutter Natur so nicht vorgesehen. Und deswegen ignorierte das Huhn das verzweifelte Piepsen des letzten Kükens, obwohl durch das Loch in der Schale bereits der kleine Schnabel zu sehen war, der versuchte, sich aus seinem engen Korsett zu befreien. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. In mir regte sich Mitleid. Ich konnte nicht zulassen, dass das kleine Wesen so kurz vor dem Ziel scheiterte. Das Küken brauchte dringend Wärme, ich musste es nach Hause nehmen.
Dummerweise hatte ich noch ein, zwei Hunde dabei und gerade keine freie Hand für die fragile Fracht. Also stopfte ich das piepsende Ei in meine Jackentasche, winkelte meine Arme weit ab vom Körper, um es ja nicht zu zerquetschen und lief heimwärts. Oder besser: schlich heimwärts. Für die Strecke von rund 500 Metern benötigte ich eine halbe Stunde. Aber die Mission gelang. Nun schnell in den Brutautomat damit. Der Schlupf musste unmittelbar bevorstehen. Denkste. Ein ganzer Tag verstrich, das Loch im Ei wurde einfach nicht grösser. Der kleine Schnabel bemühte sich zwar redlich, aber nichts passierte. Sollte ich ein wenig Unterstützung leisten?
Ich brach also die goldene Regel aller Hühnerhaltenden, Küken niemals beim Schlupf zu helfen, und schälte mit spitzen Fingern ein kleines Stückchen Schale ab. Leider erfolglos, es verstrichen weitere Stunden, das Piepsen wurde schwächer. Ich konnte nicht anders, ich musste weiterschälen. So lange, bis schliesslich nur noch ein letztes Stückchen Schale an seinem Körper hing. War es nun geschafft? Es sah nicht so aus: Das Küken lag flach im Brutautomat, atmete schwer und regte sich nicht. Hatte ich zu voreilig gehandelt? Ich hätte mich ohrfeigen können. Es wurde Abend, mit der Ungewissheit ging ich zu Bett.
Doch dann geschah es, mein verspätetes Osterwunder: Über Nacht berappelte sich das kleine Ding, schälte sich aus seiner Restschale, und stand morgens vorwurfsvoll piepsend und mit keckem Blick im Automaten, als wollte es sagen: «Jetzt holt mich schon endlich hier raus!» Als ob nix gewesen wäre. Wie grossartig das Leben doch manchmal ist! Jetzt braucht es nur noch einen Namen, das Superhuhn.
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