Aus Gaza nach Höngg

Als Iyad Titi Ende Oktober 1962 in Gaza zur Welt kam, war der ganze Gaza-Streifen unter israelischer Besatzung. Seit 1999 ist Iyad Schweizer, erfolgreicher Geschäftsmann und lebt seit drei Jahren in Höngg. Ein nicht alltäglicher Lebensweg.

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Iyad Titi, angekommen in der Abendsonne von Höngg.

Iyad Titi wuchs, an den Verhältnissen in Gaza gemessen, in einer Mittelstandsfamilie auf. «Wir waren nicht arm und dennoch fehlten die Mittel. Wir hatten keine Spielzeuge, Fahrräder oder Reisen und Restaurants waren uns fremd», blickt Iyad zurück. Sein Vater war Rektor einer Schule, hatte englische Literatur und Pädagogik studiert und war Fan von Shakespeare. Entsprechend förderte er seine sechs Kinder. Iyad, der Zweit älteste, bekam als er zehn war mit den Worten «Lies das, ich werde dich abfragen» die englische Fassung der griechischen Mythologie in die Hände gedrückt. «Wir orientierten uns am europäischen, liberalen Denken. Wir waren offen und nicht besonders religiös», fasst Iyad, der nebst Arabisch, Englisch, Italienisch und Deutsch auch praktisch perfekt Schweizerdeutsch spricht, zusammen.

Staatenlose Flüchtlinge

Da sein Vater vor der Gründung Israels 1948 in Jaffa geboren war, waren sie palästinensische Flüchtlinge. Staatenlose, denn bis heute gibt es keinen unabhängigen Staat Palästina. Von 1967 bis 2005 war der Gaza-Streifen von Israel besetzt und weitgehend von der Umwelt abgeschnitten. «Es war wie ein grosses Freiluft-Gefängniss», sagt Iyad, «mit über 75 Prozent staatenlosen Flüchtlingen. Als solcher durfte man nicht reisen und sass in einem Gebiet fest, das 15 Kilometer breit und 45 Kilometer lang ist.» In den palästinensischen Flüchtlingscamps innerhalb Gazas, so beschreibt Iyad die Zustände, teilten sich 15 Personen eine Wohnung die kleiner war als hierzulande ein Wohnzimmer − und die Kanalisation verlief offen. Wer Glück hatte, dessen Vater fand in Israel Arbeit, doch das sei auch hart gewesen, denn entweder man zog um vier in der Früh los, um alle Checkpoints zu passieren und kam erst spät zurück – oder man blieb gleich die ganze Woche fern der Familie in Israel.

Eine besetzte Kindheit

Vor diesem Hintergrund galt Iyads Familie als bessergestellt: «Und trotzdem bekamen wir nur alle paar Jahre eine neue Hose. Schuhe wurden immer einige Nummern zu gross gekauft, am Anfang mit Zeitungspapier gestopft und zuletzt so lange getragen, bis sich die Zehen nicht mehr weiter einbiegen liessen.» Wer ein Auto hatte, war ein König und Telefone gab es, auf die Einwohnerzahl Hönggs bezogen, vielleicht drei. All das habe aber auch positive Seiten gehabt: «Es war menschlicher, man kam sich näher», sagt Iyad und erzählt, wie er und seine Freunde aus den alten Socken der ganzen Nachbarschaft einen Fussball bastelten, um spielen zu können. Wie man sich gegenseitig half und Solidarität bewies, denn man wusste: «Heute geht es mir besser, morgen vielleicht schlechter – Versicherungen, Kranken- oder gar Pensionskassen gab es ja nicht.» Selbst der israelischen Besatzung gesteht Iyad gewisse Vorteile zu: «Die Unsicherheit, Stromausfälle, Unruhen, Schiessereien, Verhaftungen, natürlich war 90 Prozent negativ. Doch zum Beispiel das Schulwesen war unter Kontrolle der UNO und so durchliefen wir ein modernes Schulsystem. Wir hatten Lehrmittel aus Europa und den USA und bekamen in der Schule jeden Tag Milch und Essen.» Die Erinnerung an seinen ersten Schultag ist jedoch getrübt: «Meine Mutter begleitete mich zur Schule. Kaum war sie zurück bei meinen Geschwistern, begannen Demonstrationen. Das Militär kam, es gab Schiessereien, die Kinder mussten die Schule verlassen und ich stand dort alleine. Mit solchen Dingen musste man sich arrangieren, man organisierte sich unter Nachbarn und kam so wieder nach Hause – aber meine Mutter lebte in ständiger Sorge.» Schiessereien gehörten zum Alltag und Kinder erkannten anhand des Knalls den Waffentyp und nannten deren Profi l. Bis zu seinem Teenageralter galt ab 20 Uhr eine Ausgangssperre. Iyad erinnert sich an die Abende am Meer. Man badete, sammelte Muscheln – und dann musste man heim wegen der Ausgangssperre: «Wir Kinder verstanden das nicht. Das ist wie wenn man kurz vor Ende des Films abschalten muss. Aber natürlich lächerlich im Vergleich mit allem anderen.»

Leistung als Weg zum Erfolg

Iyad war ein guter Schüler und schloss in Gaza mit der Matura nach englischem System ab. Universitäten gab es jedoch keine. «Ich war einer der Glücklichen, der eines der wenigen Stipendien im Ausland erhielt.» So kam er nach Heidelberg, in die Nähe eines Onkels, der in Deutschland lebte. Zuerst büffelte er sechs Monate Deutsch. Er folgte der Liebe − seine damalige Freundin lebte in der Schweiz − und meldete sich an der Uni Zürich an. Da die Schweiz die ausländische Maturität nicht anerkannte, musste Iyad eine Aufnahmeprüfung absolvieren. «Mein Vater wollte einen Arzt, einen Ingenieur und einen Anwalt in der Familie», schmunzelt Iyad, «doch obwohl alle seiner Kinder letztlich studierten, ergriff niemand einen dieser Berufe.» Ihn selbst interessierte immer schon die Frage nach der Zukunft. Informatik faszinierte ihn, stand aber noch an ihren Anfängen und so wählte er Wirtschaft als Haupt- und nur im Nebenfach Wirtschaftsinformatik. 1987, während Iyad in Zürich studierte, brach in seiner Heimat die erste Intifada, der offene Widerstand der Palästinenser, aus. Sorgen und Schlaflosigkeit plagten Iyad: «Jedes Telefonat drehte sich darum, wie es allen geht und ob jemand aus der Familie oder dem näheren Bekanntenkreis verletzt oder getötet worden war.» Mit dem was Iyad neben dem Studium verdiente, unterstützte er seine Familie zuhause: «Ich konnte und musste weiterstudieren. Das war meine Pflicht, denn wer weiterkommt, kann die Familie unterstützen.» Nach dem Studium begann Iyad als Controller bei ABB und machte über Stationen bei Price Waterhouse Coopers und vonRoll Karriere. Seit diesem Frühling ist er sein eigener Chef. Er kennt den Nahen Osten und Europa sehr gut, vernetzt beide Kulturen und bringt so Firmen und Behörden zusammen. Sein Hauptgebiet ist Wasser. Von der Aufbereitung bis zur Abwasserbewirtschaftung. «Von der Quelle oder den Entsalzungsanlagen am Meer bis zum Haushalt ist eine riesige Infrastruktur nötig», führt Iyad vor Augen. Da läge das Vermögen quasi unter der Erde: «Leitungen, Pumpen, Tanks, Schieber, Armaturen und das ganze Servicewesen mit Chemikern, Ingenieuren, Architekten, Physikern, all das – und dann muss das Wasser ja auch den ganzen Weg wieder zurück, in die Abwasserbewirtschaftung. Das ist essentiell in Ländern, wo Wasser wichtiger ist als Öl. Man geht sparsam damit um und bereitet es mehrfach auf, für Duschen, WC-Anlagen und zuletzt noch für die Landwirtschaft.» Iyad schwärmt von der Vernetzung von Wissenschaft, Produktion und Wirtschaft. Er ist erfolgreich und begegnet immer wieder seinen Wurzeln: «Während meinen beruflichen Reisen in Dubai, Oman, Katar, Bahrain und anderen Ländern begegne ich beruflich vielen Palästinensern, ehemaligen Flüchtlingen, die es zu etwas gebracht haben und heute in Managementfunktionen im arabischen Raum arbeiten. Kultur, Sprache und Netzwerk verbinden schnell.»

Gleiche Tugenden verschiedenen Ursprungs

Heute ist Iyad Vater zweier Kinder, neun und fünf Jahre alt. Was gibt jemand mit seiner Geschichte Kindern weiter? «Es ist ein Seiltanz», wägt Iyad ab, «einerseits willst du deinen Kindern das geben, was du entbehren musstest, was pädagogisch natürlich falsch ist. Andererseits sollen sie wissen, dass das, was sie haben, Luxus ist, für den sie dankbar sein sollten.» Manchmal kommen ihm Erinnerungen hoch, die er seinen Kindern erzählt. Von den Flüchtlingslagern in der Nähe der Wohnung seiner Familie, in denen sogar das Essen Mangelware war: «Wenn bei uns Essen übrig blieb, wurden wir Kinder mit einem Topf zu diesen Familien geschickt. Ich vergesse nie, wie diese Mütter weinten vor Freude». Ein «Bäh, das will ich nicht» seiner eigenen Kinder trifft ihn. Doch etwas scheint ihn noch tiefer geprägt zu haben. Der Kampf. Nicht mit Waffen, sondern der alltägliche, jener ums Überleben: «In einem Gebiet wie Gaza lernt man, dass man im Leben Leistung bringen, dass man für etwas kämpfen und nachhaltig dran bleiben muss.» Iyad sagt, das sei das gelebte «survival of the fittest», das Überleben der Stärksten. Gleichzeitig habe er auch Demut und Bescheidenheit gelernt, denn ihm ging es vergleichsweise gut. Tugenden, die er in der Schweiz wieder antraf: «Bescheidenheit und Demut, verbunden mit Leistungsbereitschaft: Die Schweizer haben diese Tugenden, auch wenn anderen Ursprungs, als ich sie lernte.» Während er, so sinniert Iyad, sie in einem besetzten Land lernte, habe die Schweizer Bescheidenheit ihren Ursprung wohl eher in der früher bäuerlich geprägten Kultur. «Und natürlich bei Zwingli und Calvin. Jedenfalls waren mir viele Eigenarten der Schweiz bestens vertraut.»

In Höngg angekommen

Hier, in Höngg, seiner «letzte Station», wie er sagt, fühlt er sich zuhause. «Hier fanden wir schnell Anschluss und die Kinder Freunde. Höngg bietet die optimale Mischung zwischen Stadt und Dorf, deshalb ist es hier so schön.» Ihm sei wichtig, dass Höngg dies wisse, antwortet Iyad auf die Frage, ob im Gespräch etwas nicht thematisiert worden sei. Und auch, dass sein Weg von viel Glück und Zufällen geprägt gewesen sei. Da sind sie wieder, die Schweizer Tugenden, die man offensichtlich auch im Gaza-Streifen lernen kann.

Stichwort Gaza-Streifen
Der Gaza-Streifen, das palästinensische Autonomiegebiet, in dem 1,7 Millionen Menschen leben, ist nur 360 km2  gross und liegt begrenzt von Israel und Ägypten am Mittelmeer. Von 1967 bis 2005 stand der Gaza-Streifen unter israelischer Besatzung. In der Hauptstadt Gaza lebten 2009 rund 674’000 Menschen, also rund 14’650 pro Quadratkilometer. In Zürich sind es aktuell 4’350, in Höngg 3’070 pro Quadratkilometer.