Auf der Gasse bei Freunden

Corona trifft alle. Doch die Ärmsten trifft es am härtesten. In Zürich gibt es sehr viele Bedürftige, Obdachlose, Junkies und Prostituierte. Der Verein Incontro verteilt diesen Menschen Mahlzeiten und ist täglich auf der Gasse. Der Höngger durfte den Verein einen Abend lang begleiten.

Joyce Otazo (rechts) und eine weitere Helferin bei einem Einsatz an der Langstrasse.
Auch an einem regnerischen Samstag bildet sich eine lange Schlange bei der Essensabgabe vor dem Hiltl. Die Leute stehen bis zu einer Stunde an um ein Paket abzuholen.
Im Lager an der Bullingerstrasse werden die Tragtaschen mit den Esswaren vorbereitet.
So sieht ein vollbepackter Leiterwagen vor dem Einsatz aus.
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Es ist 16 Uhr. In einem kleinen Raum in einem der vier markanten Hardauhochhäuser an der Bullingerstrasse beginnt das Briefing für den Einsatz. Der Raum ist gefüllt mit Papiertragetaschen voller Lebensmittel. Es werden Gruppen aufgeteilt, Routen abgemacht, die Leiterwägen mit den Nahrungsmitteln und Getränken beladen und der Ablauf des Abends durchgegangen. Dann geht es los. Schwester Ariane und 15 mit Schutzmasken bedeckte freiwillige Helfer*innen sind bereit für einen weiteren Einsatz auf der Gasse. «Aufsuchende Gassenarbeit» nennt sie den Einsatz ihres Vereins «Incontro». Incontro heisst Begegnung. Und genau darum geht es. «Bei der aufsuchenden Gassenarbeit geht es nicht nur darum, die Menschen auf der Strasse mit Essen zu versorgen. Es geht vor allem um die Begegnung und die Freundschaft mit den Menschen auf der Gasse», erklärt Schwester Ariane. Und bald wird erkennbar, was sie damit gemeint hat.

An der Langstrasse hat es an diesem Donnerstag wie immer viele Bedürftige. Und die Menschen hier kennen Schwester Ariane und ihre Helfer*innen. Schon von Weitem wird sie gegrüsst und erwartet. Und sie nimmt sich für alle Zeit; für ein kurzes Gespräch oder einen freundlichen Gruss. Sie ist direkt, offen und herzlich. Die Gespräche mit den Obdachlosen sind immer auf Augenhöhe und ohne die Menschen einfach zu bemitleiden. «Mein Bruder hat jahrelang auf der Gasse gelebt. Ich bin mit dieser Realität aufgewachsen und hatte deshalb nie Berührungsängste. Das hat mir bei der Gassenarbeit sehr geholfen», erklärt Schwester Ariane.
Auf dem Weg der Langstrasse entlang erzählt Schwester Ariane noch mehr über ihren Verein: «Die aufsuchende Gassenarbeit gibt es schon zweieinhalb Jahre. Bisher war sie jedoch beschränkt auf die grösseren Einsätze an den Samstagen und Gespräche unter der Woche. Seit der Coronakrise haben wir gemerkt, dass die Not noch grösser wurde und sind nun jeden Tag unterwegs für unsere Freunde auf der Gasse». Den Verein «Incontro» hat Schwester Ariane bereits 2001 gegründet. Damals lag der Fokus noch stärker auf der Unterstützung von Jugendlichen und Kindern aus schwierigen Verhältnissen. Heute umfasst der Verein auch viele andere soziale Bereiche, wie eben diese aufsuchende Gassenarbeit.

Eine Hönggerin an vorderster Front

Den ersten Zwischenstopp legt die Gruppe bei der Isla Victoria, einem Treffpunkt und Beratungsstelle für Sexarbeitende ein. Dort wird ein Teil der Papiertaschen mit den Lebensmitteln abgeladen und später an die Prostituierten verteilt. Dann geht es weiter.
An diesem Abend ist auch die engagierte Hönggerin Joyce Otazo als freiwillige Helferin dabei. Sie war die erste Hönggerin, die sich beim Verein Incontro eingesetzt hat und ist schon seit Ende März und dem Beginn der Coronakrise auf der Gasse dabei. In der Zeit, seit sie begonnen hat, hat sich viel verändert. «Bereits in meiner ersten Woche habe ich gemerkt, wie gross der Bedarf für diese Gassenarbeit ist und wie schnell sich alles entwickelt. Innerhalb von einer Woche hat sich die gebrauchte Menge warmer Mahlzeiten verdreifacht», erzählt die junge Hönggerin. Für Otazo ist es selbstverständlich, dass sie den Verein unterstützt: «Es ist extrem wichtig, dass man sich in einer Gesellschaft für die Schwächsten einsetzt. Alle haben Unterstützung verdient. Der Austausch mit den Menschen auf der Gasse ist auch für mich sehr schön und bereichernd.»
Auf der Gasse macht man viele gute, aber auch schwierige Erfahrungen. «Die Freude und Dankbarkeit und die Gespräche mit den Menschen geben mir sehr viel. Wenn eine Person aber in einem Drogenrausch ist, ist es teilweise nicht immer einfach, zu kommunizieren.»

Breite Unterstützung…

Der Verein Incontro wird bei der aufsuchenden Gassenarbeit von über 20 evangelischen und katholischen Pfarreien aus der Stadt und dem Kanton Zürich unterstützt. Auch die katholische und die reformierte Pfarrei Höngg sind mit an Bord. Die Pfarreien sammeln Lebensmittel und Hilfsgüter bei ihren Mitgliedern und stellen diese dann dem Verein zur Verteilung auf der Gasse zur Verfügung. Auch andere Vereine und Organisationen, wie beispielsweise der Lions Club oder der Rotary Club beteiligen sich an der Unterstützung. Ausserdem erhält der Verein Incontro auch viele direkte Spenden von Privatpersonen. Die Solidarität ist also gross, aber auch das Bedürfnis steigt täglich. «Als der Bundesrat Lockerungen angekündigt hat, herrschte bei den Bedürftigen und den Menschen auf der Strasse grosse Unruhe», erzählt Otazo. Viele der Menschen hatten Angst, dass nun mit den Lockerungen auch die Gassenarbeit wieder reduziert wird. Und ohne diese Hilfe wird das Leben dieser Menschen noch viel schwieriger als es so schon ist.

…grosse Not

Ende März, zu Beginn der Coronakrise, wurden zirka 150 warme Mahlzeiten über die Woche verteilt, benötigt. Heute, knapp zwei Monate später, sind es bereits 250 Mahlzeiten an einem einzigen Tag. Hinzu kommen über 1000 Essenspakete in Papiertragtaschen, die wöchentlich verteilt werden.
Die warmen Mahlzeiten werden beim Hiltl, «25hours» Hotel und der Pizzeria Luigia abgeholt und auf der Gasse verteilt. Der Andrang ist riesig. Vor allem an den Samstagen wächst die Schlange der wartenden Personen von der Brauerstrasse-, über die Langstrasse bis in die Hohlstrasse hinein. Aber auch an diesem Donnerstag bildet sich innert kurzer Zeit eine grosse Schlange beim Hiltl, und die Menschen kommen von allen Seiten. Nachdem sich die Schlange ein wenig auflöst, beginnen die verschiedenen Teams ihre Routen, um die restlichen Mahlzeiten zu verteilen. Ein Team geht zur Bäckeranlage, zwei Teams zum Helvetiaplatz, ein Team zum «Drogenplätzli» bei der Kreuzung Militär-/Langstrasse und zwei weitere Teams gehen auf die andere Gleisseite Richtung Limmatplatz. Nach etwas mehr als drei Stunden ist alles verteilt – und nicht nur das: Es war auch Zeit für ein «Schwätzchen» mit den Freunden auf der Gasse. Ein weiterer Einsatz geht für die freiwilligen Helfer*innen zu Ende.

Man denkt vielleicht, dass es in diesem Land fast keine Not gibt, und dass es allen gut geht. Doch an einem Tag auf der Gasse mit Incontro und Schwester Ariane taucht man in eine ganz andere Realität ein. Wie die ganze Situation mit dem Coronavirus weitergeht ist noch ungewiss. Fakt ist jedoch, dass tagtäglich Leute auf die Hilfe von Schwester Ariane und ihren Helfer*innen angewiesen sind.

Wenn man den Verein Incontro unterstützen möchte, kann man Tragtaschen mit Esswaren bei der reformierten und katholischen Kirche Höngg abgeben. Weitere Infos gibt es direkt bei den jeweiligen Kirchgemeinden.

 

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