Quartierleben
6 x 75 Jahre in Höngg – erlebt von sechs Frauen
Auf einen Aufruf des «Hönggers» im Eingemeindungs-Jubiläumsjahr 2009 an alle Hönggerinnen und Höngger mit Jahrgang 1934 haben sich gleich sechs Frauen gemeldet. Der «Höngger» traf diese äusserst lebendigen Jubilarinnen an einem viel zu kurzen Nachmittag und lädt nun endlich ein auf eine Zeitreise in sechs bis sieben Folgen.
6. Mai 2010 — Fredy Haffner
Als der «Höngger» am Treffpunkt, dem Restaurant Am Brühlbach, eintrifft, wird er bereits erwartet: Margrit Furrer-Hartmann hatte den Tisch gleich selber reserviert und nun sass sie da mit ihren damaligen Schulfreundinnen, die alle ihre Erinnerungen und Fotos mitgebracht hatten. Das Aufzeichnungsgerät lief – früher hätte man sagen müssen, es surrt, doch im digitalen Zeitalter ist da nichts mehr zu hören – und alle Damen waren gehalten, nicht durcheinander zu reden, was auf Verständnis stiess und bei der ehemaligen Lehrerin unter ihnen, Ursula Volkart-Lahme, für ein wissendes Lächeln sorgte. Also blendete man zurück ins Jahr 1934, als Höngg frisch zum Stadtquartier geworden war und bald darauf die ersten Erinnerungen der Anwesenden auftauchten. Im Sinne der Lesbarkeit und mit dem Einverständnis der Damen wird in diesem Text der Nachname nur ein Mal erwähnt. Ursula Volkart-Lahme machte spontan den Anfang: «Ich wuchs an der Winzerstrasse, damals ein kleines Quartiersträsschen, auf. Da war eine Kiesgrube mit Nagelfluhfelsen, oberhalb war gleich die Hohenklingenallee. Diese Allee, die Kiesgrube und unser Garten waren unsere Spielplätze. Die Winzerhalde gab es noch gar nicht, alles war unverbaut, auch die ganze Ebene unten an der Limmat gegen Altstetten rüber: einfach leer – abgesehen vom Autofriedhof Tognazzo auf der Werdinsel.» – «Und Verkehr hatte es auch noch keinen», doppelt Elsbeth Huber nach, die an der Regensdorferstrasse aufwuchs und erzählte, wie sie dort Völkerball spielten und im Winter einen Teil des Schulweges vom Heizenholz her schlitteln konnten. Und wie die Schlitten damals das Wettingertobel hinunter auf die Winzerstrasse, so kamen an diesem Nachmittag nun auch die Damen eine nach der anderen in Schwung: «Ich bin an der Limmattalstrasse 328 aufgewachsen», erzählte Leonie von Aesch, geborene Weinmann, «damals noch eine schmale Strasse ohne Trottoir, das Tram hatte in der Wartau Endstation. Auch wir schlittelten direkt auf die Strasse runter, beim Hügel von Herrn Wunderli, auf der Höhe der heutigen VBZ-Haltestelle Winzerstrasse – vor Autos brauchten wir keine Angst zu haben.» Natürlich, denn erstens gab es viel weniger Autos als heute und von diesen waren die meisten während des ganzen Zweiten Weltkrieges, von 1939 bis 1945, in den Garagen aufgebockt. Nur wer wirklich Grund hatte, Auto zu fahren, erhielt eine Bewilligung – wie zum Beispiel Ärzte. Oder der Onkel von Leonie, der Milchmann Albert Weinmann. «Er hatte einen schwarzen Wagen, irgend so einen Amerikaner, wenn wir einmal pro Jahr damit ausfahren durften, so war das das grösste Vergnügen», erzählte seine Nichte, als wäre sie eben von einer dieser Ausfahrten zurückgekehrt. Auch oben im Maas, wo Margrits Familie 1941 damals einzog, gab es gerade mal zwei stolze Autobesitzer, dafür aber viel Raum auf dem Kehrplatz, um mit den Kindern der Nachbarschaft Völkerball zu spielen. «Wenn ich mich heute dort umschaue: Wagen an Wagen und kein Platz für Spiele», stellt sie 68 Jahre später fest.
Freiräume waren früher grösser
In den Erinnerungen waren die Freiräume für Kinder, so wurde übereinstimmend festgehalten, eindeutig grösser und ungefährlicher. Doch Eltern wussten schon damals, wie lange man für den Schulweg braucht und Extrarunden mit einer Freundin durchs Dorf wurden gar nicht goutiert. Beim Stichwort «Schulweg» meldete sich natürlich gleich Ursula zu Wort, seit Geburt in Höngg und von 1962 bis1994 selber Primarlehrerin hier: «Das Haus am Wettingertobel, neben der Kirche, da wo heute noch Hort und Kindergarten sind, das war damals ja auch noch ein Schulhaus. Dort gingen Leonie, Bethli, Erika und ich bis zur dritten Klasse zur Schule, erst danach kamen wir ins Bläsi . . . » «Ja das Bläsi, mit der alten Turnhalle, den Kletter- und Reckstangen . . . », fiel ihr Margrit ins Wort «. . .und der Zuschauergalerie!», ergänzte Ursula, an die sie sich gut erinnerte, auch wenn ihr Margrit gleich widersprach, doch: «Natürlich war da eine Galerie, glaub mir, ich habe doch später jahrelang in dieser Halle Turnen unterrichtet», wies sie die Einwände zurück. Doch bereits war das Thema wieder im Wettingertobel, bei Lehrer Walter Hintermann. Sehr musisch sei dieser gewesen, konnte sehr gut zeichnen und malen, hatte Terrarien mit Pflanzen und Tieren im Schulzimmer und verbrachte mit der Klasse viel Zeit in der Natur. Und hinten an der Wand hing ein langes Wandbild, das er selber kunstvoll stickte und an das sich alle noch bestens erinnern: «Das Thema war die Legende von der Gründung des Fraumünsters, den weissen Hirsch mit den Kerzen auf dem Geweih sehe ich noch deutlich vor mir», erzählte Ursula und fragte sich, was aus dem Gemälde wohl geworden ist. Ob es wohl sein Sohn, Andreas Hintermann, noch hat? Lehrkräfte prägten viele Erinnerungen, allerdings in verschiedener Hinsicht: «Wisst ihr noch, Hanna Frey (siehe Kasten), das war eine ganz rassige, trug immer hohe Absätze», warf Margrit in die Runde. Die einzige elegante Lehrerin in Höngg sei das gewesen, streng, aber unparteiisch, und deshalb mochten sie alle. Nicht nur die Kinder – und so hiess sie dann plötzlich nicht mehr Frey, sondern Fasolis-Frey, weil die rassige Frau offenbar auch einem Mann aufgefallen war. Den neuen Namen mussten die Kinder zu Übungszwecken im Chor aufsagen. Der Unterricht beziehungsweise die Lehrerschaft damals wurde allgemein als streng geschildert: «Hans Strickler, das war ein strenger. . . », warf Marie-Antoinette Lauer-Moos spontan ein, worauf ihr die Lehrerin der Runde die Schülerzahl in Erinnerung rief und für Verständnis warb: 40 Schüler und Schülerinnen werden auf einem einzigen Primarschulfoto gezählt – «Stell dir vor!» Mit den Buben seien sie besonders streng gewesen, da habe es oft «Tööpen» gegeben, also mit dem Lineal eines auf die offene Handfläche. Was heute undenkbar ist, war damals noch erlaubt. Und man hütete sich, zuhause davon zu erzählen, denn der Kommentar der Eltern wäre bloss ein trockenes «Wirsch es verdient ha» gewesen. Gestraft wurde, wer nicht parierte, die Aufgaben vergessen hatte, nicht gut genug war oder einfach im falschen Moment lachte.
«Zur Person»
Ergänzung aus der Ortsgeschichte Höngg von Georg Sibler, Seite 207: Hanna Fasolis-Frey war die erste verheiratete Frau, die in Höngg als Lehrerin wirkte (1935 bis 1968), sie hatte bei der Wiederwahl immer die kleinste Stimmenzahl, da damals und noch lange danach viele Leute das «Doppelverdienertum» ablehnten.
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