«Wo, Herr Pfarrer, wohnt Gott?»

Vor 20 Jahren suchte die Reformierte Kirche Höngg einen liberalen, vielleicht sogar etwas linksorientierten Pfarrer. Man fand Matthias Reuter. Im persönlichen Gespräch blickt er zurück und in die Zukunft.

Seit 20 Jahren ist Matthias Reuter Pfarrer der Reformierten Kirche Höngg.

Wenn Matthias Reuter sagt, er gehöre seit 20 Jahren zu «Gottes Bodenpersonal» in Höngg, dann klingt das zuerst salopp, ist aber alles andere als ein Ausdruck mangelnden Respekts gegenüber seiner Arbeit oder seinem «Chef», als den er Gott ebenso salopp bezeichnet. Das ist einfach Reuter, und deswegen wurde er damals vielleicht auch angestellt. Denn die Kirchgemeinde wollte einen Wechsel im «Frömmigkeitsprofil» vollziehen. Man suchte einen liberalen, vielleicht sogar etwas linksorientierten Pfarrer. Und fand Matthias Reuter, der am 1. Oktober 1994 in Höngg als gewählter Pfarrer seinen Dienst begann.

Der Schatz des Pfarrers

Dann begann das «Spulen», wie Reuter heute, mit 49, sagt. «Frisch aus dem Theologiestudium kommend, ist man eigentlich nicht auf den Pfarrberuf vorbereitet. Man weiss mit der Bibel umzugehen und einen Gottesdienst vorzubereiten, man ist akademisch gebildet – aber wie man sein Pfarramt gestaltet, das weiss man deswegen noch lange nicht.» Das lerne man erst im Amt und erst nach rund fünf Jahren habe man einen Boden. Einen aus Routine – womit Reuter aber nicht normierte, langweilige Arbeitsabläufe meint, sondern seinen «Schatz». Einen, der ihn sein Amt ausfüllen lässt, ohne dass ihn das, was ihm im Beruf begegnet, aus dem Gleichgewicht bringt. «Natürlich gehen mir viele Situationen nahe, und dann kann ich mit den betroffenen Menschen todtraurig sein, mitfühlen, zum Beispiel bei Todesfällen. Doch wenn ich dann die Beerdigung halten muss, weiss ich: Ich schaffe das. Aus Erfahrung. Dank meinem Routineschatz, der einem am Anfang eben noch fehlt.»

Ist Kirche nur noch Dienstleistung?

Unterdessen hat sich der Stellenwert von Kirche und Pfarrberuf wesentlich verändert. Auch die Kirche findet nur noch für zeitlich begrenzte Projekte Freiwillige, für längerfristige Engagements wird es immer schwieriger.
Und ähnlich wie dem Lehrerberuf gegenüber schwand der gesellschaftliche Respekt gegenüber Pfarrer und Kirche. Religion wird in den Schulen nicht mehr vom Pfarrer unterrichtet und für die Politik ist die Kirche heute weniger Partner als einer von vielen Vereinen.
Ist die Kirche also nur noch ein Dienstleister unter vielen? «Dienstleister? Das ist eine Wahrnehmung, mit der ich nicht glücklich bin», wirft Reuter ein, denn «nur Dienstleister» möchte er nicht sein: «Heute basiert alles auf Dienstleistung. Und für die bezahlt man, das zieht sich durch die ganze Gesellschaft.» Das Problem sei, dass Dienstleitungen von den Empfängern immer bewertet würden: Man bezahlt nur, solange die persönliche Kosten-Nutzen-Rechnung aufgeht. Leider auch und gerade bei der Kirche. «Bei uns kann man das», hält Reuter trocken fest, «im Unterschied zu anderen staatlichen Organisationen, wie den Steuerbehörden, dem Militär, der Schulgemeinde: Da kann man nicht austreten – bei der Kirche schon. Doch», so denkt er weiter, «die ˂Dienstleistungen˃ für die ganze Gesellschaft kann die Kirche eben nur erbringen, solange eine Mindestanzahl Menschen mitmacht, auch wenn sie selbst keinen unmittelbaren Nutzen davon hat.»
Folglich spricht man auch in der Kirche viel mehr über Geld, Zielgruppen und Nachfrage. Eine Reaktion auf diese Entwicklung vollzog sich automatisch mit den neuen Kommunikationsmöglichkeiten: «Für mich ist es heute unvorstellbar, ohne Mail und Internet zu arbeiten», hält Reuter fest, «und früher hatte man nur den ˂Kirchenboten˃, heute bespielen wir − nebst dem ˂Höngger˃ − alle Kanäle, auch im Internet.» Um zu zeigen, was man macht. Doch wo man früher einfach anbot, wird heute zuerst gefragt, was wohl ankommt. «In Höngg leben wir die Alltagskirche, mit einer grossen Angebotsbreite», bestätigt Reuter, «das hat natürlich mit der Gemeindegrösse zu tun, aber auch mit den Personen, die etwas anbieten.» Speziell nennt er Markus Fässler und Claire-Lise Kraft, die die Kinderkirche (KiKi) aufgebaut haben: «Ohne diese beiden gäbe es das wohl nicht.»

Mit welchem Angebot hat Kirche Zukunft?

«Die Frage muss anders lauten: Sind Angebote unsere Zukunft?», fragt Reuter zurück. Er findet, man könne als Kirche nicht weiter etwas anbieten und hoffen, dass es beansprucht werde. «Es braucht einen Wechsel im Denken und Handeln: Wir sind da für Menschen, die etwas aufbauen oder erreichen möchten – und bieten das dann an oder helfen ihnen, es umzusetzen.» Das neue «Familien- und Generationenhaus Sonnegg» sei so  ein Modell dieser Idee. Ein noch nicht «vollprogrammiertes» Haus, das von Menschen «bespielt» werden kann. Auch wenn Reuter konkretisiert: «Unser Anspruch ist es, kein GZ oder eine Freizeitanlage zu sein. Den theologischen oder sozialen und diakonischen Auftrag dürfen wir nicht aus den Augen verlieren.»
Und so stellt Reuter hier wie überall die Frage, was es den Menschen bringt, die mitmachen – und was weiteren Menschen, oder welche Werte vermittelt werden können? Denn es müsse einen spürbaren Unterschied geben, ob die Kirche zum Beispiel einen Mittagstisch organisiere oder jemand anders – und trotzdem müsse es kein Tischgebet geben und überall das Kreuzzeichen sichtbar sein. «Gastfreundschaft alleine ist ein christlicher Wert, oder nicht?», meint Reuter.

Und sonntags leere Kirchen

Was nicht mehr zieht, ist der klassische Sonntagmorgengottesdienst. Nach Reuters Schätzungen kamen vor 20 Jahren noch rund 100 Personen – heute noch 30 bis 40, ausser es gebe denn eine Taufe.
Der Gesamtrahmen stimmt nicht mehr. «Und wir wissen noch keine Antwort darauf», sagt Reuter. «Der Einbruch ist so massiv, dass er das ˂Produkt˃ in Frage stellt. Dabei muss die Teilnahme am Gottesdienst doch Freude machen. Ich denke oft: Da kommt eine junge Familie in eine fast leere Kirche − welchen Eindruck gewinnt sie? Macht das Lust, wiederzukommen, sich zu engagieren?» Diese Spirale hält Reuter für gefährlich. So könne man nicht mehr vor Gott das Leben feiern und mit ihm ins Gespräch kommen.

Wo, Herr Pfarrer, wohnt Gott?

Was zur letzten, halbwegs scherzhaften Frage führt: Wo, Herr Pfarrer, wohnt Gott, und hat Sie Hobbys? Reuter lacht schallend: «Auf Sie oder Er lasse ich mich nicht ein, das führt zu nichts. Aber auf Hobbys gehe ich ein: Gottes Hobby ist die Schöpfung, das Leben, der Mensch. Wobei Hobby zu wenig ist: Es ist Leidenschaft, die auch Gott Leiden geschaffen hat.» Wo Gott wohnt, da zögert Matthias Reuter kurz: «Natürlich kann man sagen, Gott ist in allen Dingen. Aber ich verstehe Gott eher als ein Ereignis. Er geschieht, wird erlebt, ist plötzlich in einem Gespräch präsent, ohne namentlich erwähnt zu werden – das sind so Momente, wenn ich die unvermittelt spüre, dann denke ich oft spontan und berührt ˂Hi Chef˃.» Würde Gott irgendwo wohnen, wäre Gott zu fest angebunden. Gott ist nicht «wohnhaft». Über das «Haft» in diesem Wort stolpert Reuter immer wieder. «Doch bevor es jetzt doch noch eine Predigt wird, verabschiede ich mich» − lacht, steht auf und geht seines Weges.

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