Gottes Samen

«D’Natur isch es einzigs Gvögel.» Beinahe hätte ich das Steuer des Wagens herumgerissen und wäre ins Kornfeld gerast, damals, als ich diesen Satz vernahm. Irgendwo im Zürcher Oberland war das, und der Satz hatte unvermittelt das Schweigen durchbrochen, das sich zuvor auf dem Rücksitz des alten Wagens behaglich hingefläzt hatte. Dort sassen ein ergrauter Regisseur und zwei seiner Groupies, unterwegs, um einen Drehort zu besichtigen. Und ich vorne, einsam, am Steuer. Am nahen Bachtel entlud sich gerade ein Sommergewitter und inspirierte den Maestro zu diesem denkwürdigen Satz. Seine Groupies, eine junge Frau und ein junger Mann, drehten die Köpfe von ihm weg und schauten sich erstmals die Natur an – ich fixierte ihn fragend im Rückspiegel.

«Schaut es euch an, bewundert und bejubelt es», holte der alte Mann aus, «den ganzen lieben langen Tag schwitzt alles vor sich hin und sondert Salz ab, liegt träge unter der Hitze wie ein englischer Tourist an der Adria, wälzt sich im Staub, die Luft flimmert über trockenen Feldern, kein Hauch beugt die Halme der Wiesen und was Beine hat, verzieht sich in den nächstbesten Schatten. Dann brodelt es in Gottes Waschküche, die Gewitterwolken türmen sich wie wuchernde Geschwüre hoch in den Himmel und erste Böen künden vom nahenden Sturm. Flieht, ihr Würmer, ich wasche euch hinfort! Und dann kommt er, der erste Tropfen, der zweite und nach dem dritten geht das Zählen im Prasseln unter. Für ein paar apokalyptische Minuten befruchtet der Regen, der Samen Gottes, in der Dunkelheit alles, über das er sich ergiesst. Die Erde saugt gierig auf und die Natur leckt weg, was sie kann. Ein einziger sexueller Akt, pulsierend an der Grenze zum Herzinfarkt. Und danach legt sich das Land erschöpft nieder und schläft – wie immer ohne noch zu kuscheln – erschöpft, gereinigt und geläutert ein, versunken im Traum, der das Lied der Fruchtbarkeit besingt. Am nächsten Morgen verzieht sich dieser Traum als Dunst und Dampf in den ersten Sonnenstrahlen, schwebt hoch in die Himmel, wo der Fruchtbarkeitsreigen erneut beginnt, und hier unten treiben und spriessen Flora und Fauna».

«D’Natur isch es einzigs Gvögel», wiederholte er abschliessend, das Schweigen kehrte in den Wagen zurück, wo es im wahnwitzigen Takt der Regentropfen unterging, die nun auf dem Autodach aufschlugen wie Publikumsapplaus. Als hätte Gottes Samen nur darauf gewartet, dass der alte Mann zum Punkt kam und der Vorhang fällt. Ich steuerte den Wagen weiter durch die nasse Wand.

Es vergeht kein Sommergewitter, ohne dass ich lächelnd an den alten Regisseur denke. Gleich wird es wieder so weit sein.

Kühlende Grüsse
Frank Frei

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