Fluchthelfer lockte Höngger an

Am letzten Donnerstag fand in der Pfarrei Heilig Geist die Vernissage des Buches «Hans Ulrich Lenzlinger – Fluchthelfer, Abenteurer und Lebemann» statt. Rund zweihundert Besucher besuchten den interessanten Anlass.

Autor Stefan Hohler und Moderator Bruno Kistler nach dem Anlass
Aufmerksame Zuhörerinnen und Zuhörer im voll besetzten Saal der Pfarrei Heilig Geist.
1/2

Kurz vor 20 Uhr am letzten Donnerstagabend: Unaufhörlich füllte sich der Saal in der Pfarrei Heilig Geist mit Besuchern jeden Alters. Die vom «Höngger» organisierte Buchvernissage des Autors Stefan Hohler stiess auf riesiges Interesse – die zuletzt eintreffenden Zuhörer mussten gar stehen. Fluchthelfer Hans Ulrich Lenzlinger, geboren am 22. Juli 1929, ermordet am 5. Februar 1979, war eine schillernde Figur und in Höngg bestens bekannt – deshalb lockte «seine» Vernissage wohl so manchen am Donnerstagabend aus dem Haus.

Bussen freundlich bezahlt

Fredy Haffner, Verlagsleiter des «Hönggers», begrüsste die Besucher, den Autor und den Moderator Bruno Kistler, ehemaliger Sprecher der Stadtpolizei Zürich. «Ich kann Ihnen dieses Buch nur wärmstens empfehlen», begann darauf der pensionierte Polizist und erzählte, dass er vor 50 Jahren eine eher belanglose Begegnung mit Hans Ulrich Lenzlinger gehabt hätte: «Ich war damals ein 26-jähriger Verkehrspolizist, und mein Chef, der neben Lenzlinger an der Ackersteinstrasse wohnte, beauftragte uns, Geschwindigkeitskontrollen zu machen. Wenn Lenzlinger zu schnell fuhr, bezahlte er seine Bussen sehr anständig und freundlich.» Frisch umgebaute Fluchtautos habe der «Schlepper» jeweils voller Stolz auf dem Polizeiposten gezeigt.

Zahmen Gepard vor der Bäckerei angebunden

Die Atmosphäre rund um die Ackersteinstrasse 116 sei in den frühen Siebzigerjahren immer sehr mysteriös gewesen, erzählte Autor Stefan Hohler: «Teure Ami-Schlitten standen vor dem Haus, im Garten hielt Lenzlinger einen zahmen Gepard, zwei Löwen, einen Leoparden, einen Puma und zwei Servals sowie Papageien und Klammeraffen. Für uns Kinder war es spannend, dort vorbeizuschleichen und einen Blick auf das Grundstück zu werfen.» Immer wieder habe man auch den zahmen Gepard vor der Bäckerei Baur am Meierhofplatz wie einen Hund angebunden gesehen, derweil Lenzlinger dort einkaufte. Zwei Monate lang erhielt der Journalist Stefan Hohler im Herbst 2011 von seinem Arbeitgeber Tamedia im Rahmen eines Förderpreises Urlaub. «Dabei habe ich während einem Monat in der Stasiunterlagen-Behörde in Berlin zum Fall Lenzlinger recherchiert und mich durch rund zwei Meter Akten gelesen. Anschliessend habe ich noch einen Monat in Zürich mit Bekannten und Verwandten von Hans Ulrich Lenzlinger gesprochen und anschlies send geschrieben», so der Autor, von dem im «Tages-Anzeiger» eine mehrteilige Serie zum «Fall Lenzlinger» erschien.

Von der Chinchilla-Zucht zum Bordell

Hans Ulrich Lenzlinger sei schon immer ein Unikum gewesen. So habe er zwar eine kaufmännische Lehre absolviert, wollte aber nie als Kaufmann arbeiten. Er begann früh, mit Autos zu handeln und startete eine Chinchilla-Zucht im Keller des Hauses an der Ackersteinstrasse, in welchem er bis zu seinem Tod mit seiner Mutter und seiner Ehefrau Bernadette wohnte. «Mit der Chinchilla-Zucht kam er zu seinem ersten Geld. Dann gründete er im Haus ein Bordell, welches sehr gut lief, aber nach sechs Monaten polizeilich geschlossen wurde. Später gründete er die Fluchthelfer-Firma Aramco», so Hohler. Mit dieser organisierte Lenzlinger Fluchten aus der DDR nach Deutschland. Er war aber kein eigentlicher Fluchthelfer, sondern Organisator. Ausgeführt wurden die Fluchten von Drittpersonen in Westdeutschland, die die Hälfte des «Schlepperpreises» von damals 30 000 DM erhielten. 1974 bis 1975 wurden die meisten Fluchten durchgeführt, insgesamt etwa hundert.  Die Markenzeichen des Lebemannes, der auf der einen Seite charmant und lustig, auf der anderen knallhart und arrogant sein konnte, waren seine Wildtiere, Waffen und seine Frau Bernadette, die er als 18-Jährige über ein vom ihm geschaltetes Hochzeitsinserat kennenlernte. So posierten die beiden oft in den Medien mit ihrem zahmen Geparden und brüsteten sich damit, Menschen in die Freiheit zu helfen. In westdeutschen Zeitungen schaltete die Firma Aramco Inserate, in welchen die Fluchthilfe angepriesen wurde. Bernadette war eine ebenso harte Geschäftsfrau wie ihr Mann. Die beiden verband eine Amour fou: Zweimal waren sie verheiratet, zweimal liessen sie sich scheiden – Grund dafür waren die unzähligen Frauengeschichten Lenzlingers und seine Eifersucht.

Verwandter sass im Publikum

Stefan Hohler beantwortete Bruno Kistlers Fragen präzise und teilweise humorvoll, so dass das Publikum nicht selten von Herzen lachte. Die gezeigten Fotos sprachen für sich, so hörte man im Publikum ein zünftiges «Wow!», als man die langbeinige Bernadette sah, oder ein «Oha» beim Mitarbeiter-Foto der Aramco, auf welchem Lenzlinger mit seinen Deutschen Doggen, seiner Pistole und zwei Mitarbeitenden posiert. Die anschliessende Fragerunde wurde genutzt, und nicht selten erzählte jemand von eigenen Erlebnissen mit dem Höngger Original. Eine Besucherin fand, dafür, dass Hans Ulrich Lenzlinger einige Zeit in der Jugenderziehungsanstalt Uitikon Waldegg verbracht habe, sei er «verhältnismässig gut herausgekommen» – was für Lacher sorgte, auch wenn es durchaus ernst gemeint war. Berührend war zudem, als ein älterer Herr in der anschliessenden Fragerunde aufstand, erzählte, er habe keine Frage, gratuliere Stefan Hohler aber zu seinem Buch, und er heisse übrigens Lenzlinger zum Nachnamen. Er führte aus, dass er der Grosscousin von Hans Ulrich Lenzlinger sei. «De Hans Ueli isch scho immer en LuusChaib gsi, aber i dä Familie hämmer en trotzdem alli gern gha. Die Frau ufem Bild mitem Gepard im Garte isch übrigens mini Muetter», sagte er. Anhaltender Applaus belohnte seine Erzählungen, ebenso die von Autor Stefan Hohler. Im Anschluss an die Vernissage kauften viele Besucher das druckfrische Buch und liessen es nicht nur vom Autor, sondern auch von Bruno Kistler signieren, und verbrachten den Rest des Abends beim von der Pfarrei Heilig Geist offerierten Apéro bei intensiven Gesprächen. «Sonen lässige Anlass, fascht wie ne Klassezämmekunft», meinte ein älterer Herr zufrieden.

 

0 Kommentare


Themen entdecken