Die Stadt, in der niemand schläft

Wer die Stadt Zürich verlässt, landet normalerweise auf einer Autobahn, im nächsten Dorf oder verschwindet in einem der angrenzenden Wälder. Nicht so in Höngg. Wer auf der Anhöhe des Hönggerbergs steht und auf Zürich zu seinen Füssen schaut, hat eine andere Stadt im Rücken. Die Stadt der Wissenschaften. Eine Reportage aus Science City.

Das «5-Finger-Gebäude» (Chemietrakt) scheint nach der Stadt zu greifen.
Das Sportzentrum fügt sich in die Landschaft ein.
Ein beliebter Treffpunkt: die «Boulder»-Felsen.
Ivana Oberhänsli: Wird sie die Science City Richtung Uni verlassen?
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Alles ist ruhig. Die Stadt Zürich schläft noch. Kein Betrieb auf der vierspurigen Strasse, welche die Wohnhäuser vom obersten Bauernhof am Hönggerberg trennt. Blumen am Zaun, ein alter Pflug im Garten, ein fahles Licht im Stall, sattes Grün, wohin das Auge reicht. Man atmet Natur, den Geruch von Heu und eine Prise Methangas. Es ist vor sechs Uhr und die Kühe von Bauer Markus Willi stehen schon draussen, kauend und glotzend. Ihr Blick reicht jedoch nicht über die Hügelkuppe, hinter der die Idylle schlagartig zu Ende ist. Denn hier steht eine Stadt, deren erstes Gebäude «die Hand» genannt wird, weil fünf Seitentrakte einem Hauptgebäude entspringen. Diese fünf Finger zeigen Richtung Zürich, in Richtung Bauernhof und scheinen nach den letzten unbebauten Feldern zu greifen. Hier wird die Natur nicht eingeatmet, sondern analysiert, denn es ist der Chemielabortrakt der ETH Hönggerberg, genannt Science City.

Science City: Die wachsende Stadt

Schon vor über 50 Jahren hatten die Verantwortlichen des Bundes erkannt, dass die Eidgenössische Technische Hochschule (ETH) mehr Platz beanspruchen würde und sich das riesige Areal auf dem Hönggerberg gesichert. Seitdem wächst die Zahl der Bauten, wie auch die Zahl der dort arbeitenden Menschen. Im Jahre 2020 werden über die Hälfte der rund 20 000 Studierenden und 1000 Professoren der ETH Zürich auf dem Campus Hönggerberg arbeiten.

Es ist sechs Uhr früh. Gemäss Plan gehen die Türen auf und die Lichter an. Die Busse der Linien 80 und 69 bringen die Putzkolonnen und Angestellten der Frühschicht in den Campus. Emil Häfliger arbeitet seit zehn Jahren im Hausdienst der ETH. Doch diese Bezeichnung gefällt dem gelernten Schreiner weniger. Er hatte sich seinerzeit für eine Stelle als Hausmeister ETH beworben und die eidgenössische Ausbildung zum Hauswart absolviert. Man trifft ihn normalerweise in seinem Büro im Physiktrakt HPV, denn heutzutage findet auch seine Arbeit zu 40 bis 50 Prozent am Computer statt. Um Punkt 6.30 Uhr stellt er die Brandmeldeanlagen auf Tag, was heisst, dass man bei falschem Alarm drei Minuten hätte, um zu widerrufen. Emil Häfliger betreut auch mehrere Aussenliegenschaften der ETH und ist unter anderem für den Wandtafelputzplan der Hörsäle und die Veranstaltungen im Mehrzweckraum zuständig. Er hat eine ruhige, fast väterliche Art und ist beliebt bei den andern Angestellten. Auf seinen Rundgängen im Campus wird er oft in ein Gespräch verwickelt. Heute hat er jedoch keine Zeit dafür, denn die Demonstration des Fassadenlifts steht auf dem Programm sowie der Notruf eines Dozenten. Kurz vor halb acht sieht er, wie die ersten Studenten in Sportkleidung an seinem Büro vorbei Richtung Sport Center eilen.

Science City: Die sportliche Stadt

Dieser Trakt, der 2009 dem Betrieb übergeben wurde und 30 Millionen kostete, ist ganz im Sinne der modernen ETH: Einerseits dient er der Forschung der Bewegungswissenschaften, andererseits ist es eine vom ASVZ (Akademischer Sportverband Zürich) betreute Sportanlage für Studierende und die Öffentlichkeit

Der Bau ist in den Boden eingelassen und fügt sich deshalb und wegen der grünen Glasflächen ideal in die Umgebung ein. Er verfügt über Trainings- und Wellnessbereiche und auf dem Dach befinden sich Tennis- und Beachvolleyball-Felder und ein Rasenplatz. Selbst externe Vereine nützen abends diese top eingerichtete Infrastruktur, in der 80 Sportarten ausgeübt werden können. Auch Ivana Oberhänsli, die 24-jährige Studentin aus dem Kanton Thurgau, trifft man hier manchmal beim «Bouldern», dem Sportklettern ohne Seil und Gurt. Die blonde Studentin mit den wachen, blauen Augen wollte ursprünglich eine pädagogische Laufbahn einschlagen. Sie absolvierte die Pädagogische Maturitätsschule in Kreuzlingen und entschied sich danach für ein Zwischenjahr − ein Praktikum in München in einem Büro für Umwelt- und Stadtplanung – und für den Studiengang Umweltingenieur. 2009 schrieb sie sich an der ETH Zürich ein. Sie hätte das Studium der Umwelt auch an der ZHAW (Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften) absolvieren können, wählte jedoch die ETH als die grössere Herausforderung. Heute beginnt ihre erste Vorlesung um acht Uhr. Ivana wohnt im «Dörfli», im Zentrum von Zürich und benützt den öffentlichen Verkehr. Die Busse der Linien 69 und 80 liefern zwischen sieben und acht Uhr fast pausenlos Dozenten, Angestellte und vor allem Studenten im Campus ab. Die meisten strömen aus den blauen Fahrzeugen und verschwinden gleich in der «Alumni Lounge» oder im nahen Coop. 

Science City: Die konsumierende Stadt

Die Science City ist mehr als eine Ausbauetappe der ETH Zürich: Hier sollen Wirtschaft, Wissenschaft und öffentliches Leben verschmelzen, hier soll geforscht und gearbeitet, studiert und gelebt werden. Die 11 000 Personen, die sich jeden Tag auf dem Campus bewegen, wollen essen und trinken. Im Schnitt wandern täglich 1500 Essen über die Theken der zwei Mensas, dazu kann man sich in einem WOK-Restaurant verpflegen, im Bistro oder der «Alumni Lounge», welche beide gleich am Hauptplatz neben den Bushaltestellen liegen. Im neuen Coop kann man die Fertiggerichte gleich in der Mikrowelle aufwärmen. Weitere Läden und Restaurants sind geplant.

Während sich die Studentin Ivana Oberhänsli um zehn Uhr zwischen zwei Vorlesungen eine Pause gönnt, strömt die Putzequipe in den Hörsaal, um nach dem Plan von Emil Häfliger die Wandtafel zu putzen. Er kennt keinen der Professoren persönlich, jedoch weiss er genau, welcher jeweils überzieht oder früher aufhört. Seine Equipe ist auf jeden Fall bereit. Er weiss, dass viele Professoren diesen und andere Dienste schätzen, und ihre Dankbarkeit auch mal mit einem Präsent ausdrücken. «Sie leben aber in ihrer eigenen Welt, und es kam auch schon vor, dass mir einer zu verstehen gab, dass ich ohne ihn keinen Job hätte.» Noch vor dem Mittag rückt Emil Häfliger mit dem Dienstauto und dem Lehrling aus, um einem Gastdozenten, dessen Tumbler nicht funktioniere, zu helfen. Sein Weg führt am Gebäude HPL vorbei, das sich noch in Bau befindet. Hier wird die biomedizinische Forschung einziehen und eng mit der Universität Zürich, dem Universitätsspital und der Wirtschaft zusammenarbeiten. Auf mehreren Stockwerken entstehen bald 400 Arbeitsplätze mit dem Ziel, Krankheiten zu bekämpfen, was für die 40’000 Nagetiere in der unterirdischen Labortieranlage wohl den Tod bedeutet. An der Kürbergstrasse im angrenzenden Quartier Höngg hat Emil Häfliger das Problem des Professors in Kürze gelöst. Man musste nur den richtigen Knopf drücken, die Türe des halbleeren Tumblers öffnen und die sechs Paar schwarze Socken in den Wäschekorb legen. Hoffentlich doziert der Professor nicht über Ökologie. In der Waschküche dieser Dozentenwohnung, welche der ETH gehört, hängen überall laminierte Anweisungen, meist in Englisch. Aber vielleicht spricht der Professor eine andere Sprache.

Science City: Die internationale Stadt

Die ETH, 1855 als Polytechnikum gegründet, ist heute eine Hochschule mit internationalem Ruf, ein Forschungs- und Arbeitsort für über 20 000 Personen aus 80 Ländern. Die ETH ist mit führenden Hochschulen in den USA, Asien und Europa vernetzt. 2011 waren von 1900 Neueinschreibungen für das Masters – Unterrichtssprache Englisch – 36 Prozent Ausländer. Für ein Doktorat schrieben sich im gleichen Jahr über 1000 Studierende neu ein, davon 71 Prozent Ausländer. An der ETH Zürich (Zentrum und Hönggerberg) kommen nahezu 6000 Studierende, etwa jeder Dritte, aus dem Ausland, wovon 70 Prozent aus Europa, vor allem aus Deutschland.

Ivana hat ihre zweite Vormittagsvorlesung hinter sich gebracht und ist reif für die Mittagspause. Ihr mitgebrachtes Essen hat sie am Vorabend gekocht. Sie achtet auf gesunde Ernährung und kann gleichzeitig Geld sparen. Sie ist gut organisiert und sparsam, nicht aus Geiz, sondern weil sie ihren Eltern nicht zur Last fallen will. So schafft sie es immer wieder, einen der raren Freizeitjobs für Studenten zu finden. Ivana arbeitete abends und samstags in einer Videothek und auch an der ETH kommt sie gelegentlich zu Jobs: Sie macht Mittagsablöse in der Polybuchhandlung, hilft bei Anlässen mit und seit März 2012 macht sie Führungen durch den Campus. «An der ETH studieren und sich gleichzeitig dieses Studium selber finanzieren, ist schwierig. In unseren Semesterferien stehen meist Prüfungen an oder deren Vorbereitung.» Vielleicht waren diese Jobs ein Grund, weshalb Ivana 2011 die Prüfungen am Ende des 3. Semesters nicht bestand. Sie will sich in diesem Jahr darüber klar werden, ob sie zur Pädagogik zurückkehrt, auf ein Geografie-Studium umsattelt oder doch noch Ingenieurin in Umweltfragen wird.

Science City: Die ökologische Stadt

Die neueren Bauten im Campus Hönggerberg werden alle nach dem Minergie-Standard eco gebaut, Fotovoltaik-Anlagen betreiben die Gebäudetechnik und der Wind wird für die Lüftung genutzt: in einer Stadt der Wissenschaften nicht weiter verwunderlich. Nun wird auf dem Hönggerberg ein Pionierprojekt realisiert: In Zukunft soll die Abwärme der Gebäude im Sommer mit 800 Erdsonden im Boden – bis zu 200 Metern Tiefe – gespeichert werden. Diese Sonden werden mit Sammelleitungen zusammengefasst und im Winter pumpt man die Abwärme wieder nach oben, um die Gebäude zu heizen. Ziel ist eine CO2 -freie Energiebilanz bis ins Jahr 2020.

Emil Häfliger bleibt nach der Demonstration des Fassadenlifts noch einen Augenblick auf dem Dach des Physikgebäudes und schaut hinunter auf das nachmittägliche Treiben auf dem Campus. Wie jeden Donnerstag treffen sich die Rentner der angrenzenden Quartiere zum Jass in der Mensa. Sportler bewegen sich auf dem Dach des Sportzentrums und ein Dutzend Studierende hängen an den zwei farbigen «boulder»-Felsen. Emil Häfliger hat nur wenige Kontakte zu den Studierenden, manchmal brauchen sie ihn, wenn sie ein Fest organisieren. Ivana Oberhänsli hat auch zu Angestellten und Dozenten Kontakt und vor allem zu den Kollegen ihres Studiums und ihres Jahrgangs. Dies könnte sich bald ändern, wenn sie sich für die Geografie entscheidet und den Campus Science City Richtung Uni verlässt.

Science City: Die (noch) unbewohnte Stadt

Heute sorgen tagsüber die erwähnten Verpflegungs- und Sportmöglichkeiten für Betrieb, sowie die Papeterie und die Buchhandlung, die Post und die Bank, ein Wochenmarkt, die Kinderkrippe und selbst die Kirche, die in keinem Dorf fehlt, ist hier vorhanden – wenn auch nur in Form eines Ruheraumes. Zudem finden in der «Alumni Lounge» abends Konzerte statt, mittwochs hat das von den Studierenden betriebene Kino geöffnet und zweimal die Woche herrscht in der Bar «Loch Ness» Hochbetrieb. Nur gewohnt wird noch nicht: Der geplante Neubau ist noch nicht bezogen, sondern erst ausgesteckt. Die 65 Millionen Franken teuren Bauten werden im Herbst 2015 bezugsbereit sein. Die 497 Zimmer in 63 Wohnungen wären dann die grösste studentische Wohnsiedlung und die Erste, die in Zürich direkt auf einem Campus stünde.

Noch ist es nicht so weit. Hat Emil Häfliger Spätschicht, dann stellt er um 17 Uhr die Brandmelde-Anlagen scharf, denn um diese Zeit finden keine Vorlesungen mehr statt. Ab halb sechs kontrolliert er beinahe hundert Türen und um halb neun löscht das Licht automatisch. Auf seinem letzten Rundgang legt er öfters eine Pause ein, setzt sich auf eine Parkbank. Er geniesst die Stille und den Geruch der Rosen neben dem Physikgebäude. Er schätzt diese Inseln der Ruhe, lässt den Tag Revue passieren; vielleicht denkt er an seine Pensionierung in wenigen Jahren, dass er seine Arbeit liebt und ihm die ETH ein guter Arbeitgeber ist. Eine Gruppe Studenten mit Bierdosen verschwindet um die Ecke. Emil Häfliger lässt sie gewähren, nur wenn sie übertreiben und im Teich baden wollen, dann schreitet er ein. Eine blonde Studentin mit wachen, blauen Augen eilt an ihm vorbei, grüsst ihn. Er schaut ihr nach und sieht, wie sie einen der Busse, die jetzt weniger häufig fahren, erwischt. Dann fährt der Bus ab, verschwindet aus dem Blickfeld von Emil Häfliger, fährt am «Loch-Ness» vorbei, das heute geschlossen ist, vorbei an den Kühen von Bauer Willi und verlässt die Science City. Die Stadt, in der niemand schläft, ruht.

Der «Heimweh-Höngger» Peter Inderbitzin arbeitete 2010 im Rahmen eines Sabbaticals beim «Höngger». Im Frühjahr 2011 begann er den dreisemestrigen Bildungsgang Journalismus an der EB Zürich (Erwachsenenbildung). Diese Reportage ist seine Abschlussarbeit, mit welcher er vor kurzem seine Weiterbildung erfolgreich beendete.