Das Wohnzimmer auf der Brache

Was ist das kulturelle Potential einer Brache? Welche Orte braucht die Bevölkerung? Beim «Living Room – Festival», das auf der Stadionbrache des Hardturms stattfand, wurde diesen und anderen Fragen nachgegangen.

Zeitraum: Performance mit Tanz, Licht und Musik
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Ein kleines Festzelt steht auf der grossen Betonfläche, die einst den Rasen des Fussballstadions darstellte. Fast ein wenig verloren wirkt es innerhalb dieser immensen Betonwüste. Vor dem Zelt brennt ein Feuer in einer kleinen Grillstelle, einfache, selbstgefertigte Sitze und Bänke laden zum Verweilen ein. Rundherum, auf dem Platz verteilt, sind verschiedenste Kunstinstallationen aufgebaut. Ein Pferd wird herumgeführt, auf dem Kinder ein paar Runden reiten dürfen, ein Künstler und seine Partnerin feilen noch an einer akrobatischen Darbietung und auf der Bühne des Festzelts bereiten sich die ersten Musiker des Abends auf ihren Auftritt vor. Es herrscht eine gemütliche, familiäre Stimmung.

Was macht einen lebendigen Platz aus?

Anna Graber sitzt derweil vor dem Feuer und bemalt eine Tafel, auf der das Programm des heutigen Abends vermerkt ist. Sie ist die treibende Kraft hinter dem «Living Room Festival». Hervorgegangen ist es aus ihrem Projekt «Café des Visions», das sie vor rund zehn Jahren gegründet hat. Dabei reist sie mit einem Fahrradanhänger, in dem sich nicht viel mehr als ein paar Sitze befinden, europaweit von «Unort zu Unort» und stellt dort ihr mobiles Café auf. Als «Unort» bezeichnet sie Plätze, die eigentlich die Bedeutung von Dorfplätzen oder Treffpunkten hätten, als solche jedoch nicht wahrgenommen werden, «Plätze also, an denen die Menschen nicht verweilen, sondern einfach nur vorbeieilen», wie sie erklärt. Hier beginnt sie, Passanten in ein Gespräch zu verwickeln. Sie fragt sie, was sie sich für den Ort wünschen, was ihrer Meinung nach gebaut werden sollte und was es bräuchte, um den Ort einzigartig zu machen. Mit einer wasserlöslichen Farbe werden die Wünsche auf den Boden aufgezeichnet, ein Zeugnis lebendiger Auseinandersetzung mit öffentlichen Räumen in der Stadt.

Ein stetig wachsendes Projekt

Auch auf der Hardturmbrache hat sie so begonnen: «Von meinem Balkon in Höngg aus habe ich immer diesen riesigen betonierten Platz gesehen und hatte das Bedürfnis, ihm Leben einzuhauchen», erläutert Graber. So machte sie kurzerhand mit ihrem Café des Visions Station auf der Brache – und tut dies mittlerweile seit sieben Jahren jeweils für eine Woche pro Jahr. Aus den zaghaften Anfängen entwickelte sich im Verlauf der letzten Jahre ein kleines, kunterbuntes Festival, an dem Künstler*innen ihre Werke ausstellen dürfen, mit Raum experimentieren, mit den Besucher*innen in Austausch treten können. «Im ersten Jahr war ich alleine hier, nun kommen Jahr für Jahr mehr Leute und fragen mich, ob sie mitmachen dürfen», so Graber.

Bunte Vielfalt

Ein faszinierendes Sammelsurium verschiedenster Kunstinstallationen hat sich daraus in diesem Jahr ergeben. Da ist etwa dieser kleine Zirkus, den Isabel und Carmen, zwei Absolventinnen der ZHdK geschaffen haben. Oder der umfunktionierte Lastwagen, der als mobile Sauna dient und mit dem Jérome durch Europa reist. Sergej hat eine Lichtinstallation an die alte Stadionwand gehängt, die nachts mit Leuchtbuchstaben eine Botschaft verkündet, Roman und Sandra zeigen eine Freiheitsdressur mit Pferd und Akkordeon. Auf der Bühne finden jeden Abend andere musikalische Darbietungen statt – vom Rapkonzert bis hin zu klassischen Querflötenkonzerten. Bis zu 300 Gäste zählt das Festival pro Abend.

Ein Raum für alle?

Finanziert wird der Anlass hauptsächlich durch Spenden und Kollekten, lediglich für die Infrastruktur, also Zeltmiete und Strom, erhält das Festival Beiträge von der Stadt Zürich und dem Migros Kulturprozent. Die Arbeit der Künstler*innen bleibt unbezahlt, die Spendeneinnahmen werden am Ende des Festivals unter allen aufgeteilt. Unterstützung in ideeller und organisatorischer Form erhält Graber zudem vom Verein Stadionbrache Hardturm, der das Areal von der Stadt in Gebrauchsleihe zur Zwischennutzung übernommen hat und sich durch vielfältige Projekte für eine quartierverträgliche Nutzung der Brache einsetzt. «Es ist wunderbar zu sehen, was hier so alles entsteht – ganz allein aus der Initiative der Quartierbevölkerung. Es braucht nämlich gar nicht viel, um aus einem «Unort» einen Ort der Begegnung zu machen», schwärmt Graber. «Ich persönlich wäre sehr dafür, diesen Freiraum zu erhalten – und für das Stadion einen anderen Standort zu finden».

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