Als die Verwahrlosung der Jugend überhandnahm

Kindertagesstätten sind keine Erfindung der heutigen Zeit: Seit bald 200 Jahren werden Kinder im Vorschulalter ausserhalb familiärer Strukturen fremdbetreut, denn damals, im Zuge der Industrialisierung, veränderte sich der Arbeitsmarkt – mit Folgen für die Kinder. Soziales Engagement führte zur Gründung von «Gvätterlischuel» und «Kleinkindaufbewahrungsanstalten».

Kindergarten in Höngg 1910, mit «Tante» Ida Nötzli.
Die erste Kindertagesstätte in Höngg, 1947 eröffnet vom Frauenverein Höngg und heute noch im selben Haus zu finden, allerdings geführt vom Gemeinnützigen Frauenverein Zürich.
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Das, worunter man heute eine Kindertagesstätte (KITA) versteht, lässt sich in seiner historischen Entwicklung nicht von Beginn weg als Begriff klar definieren. «Kinderhort» und «Kindergarten» vermischen sich dort leicht. Klar ist, dass beide Bereiche einen gemeinsamen Ursprung hatten: Das Ansinnen, die im Zuge der Industrialisierung öfters tagsüber sich selbst überlassenen Kinder zu betreuen. In Höngg, so ist in der Mitteilung Nummer 14 der ortsgeschichtlichen Kommission des Verschönerungsvereins Höngg nachzulesen, bot die Gemeinde auch deshalb Hand zur Eröffnung eines Kindergartens, weil «die Verwahrlosung der Jugend, auch der vorschulpflichtigen, infolge der Fabrikarbeit der Mütter seit 1874 in der Seidenstoffweberei immer mehr überhand» genommen habe.
Fast 100 Jahre früher, 1780, hatte Johann Heinrich Pestalozzi die Idee aufgebracht, ein Kinderhaus mit einem einfachen Bildungsangebot für bedürftige Kinder einzurichten. Doch erst 1826 wurde in Genf eine Betreuungseinrichtung für Kinder eröffnet, deren Eltern, um die Familie ernähren zu können, beide einer Arbeit ausser Haus nachgehen mussten. Es stand dort also vielmehr der Gedanke der Armenpflege als Pestalozzis Bildungsanspruch im Vordergrund. Auch das historische Lexikon der Schweiz schreibt, dass diese und andere danach gegründete Institutionen «eher Bewahranstalten gegen schädliche Einflüsse als kindgerechte Bildungseinrichtungen waren». Zumal es eine eigentliche Ausbildung für Lehrerinnen noch gar nicht gab. Der deutsche Pädagoge Friedrich Fröbel (1782 – 1852), ein Schüler Pestalozzis, war es dann, der die Idee eines «Gartens für Kinder» erstmals formulierte. Der erste nach diesem Konzept errichtete Kindergarten der Schweiz öffnete 1845 in Zürich-Riesbach seine Tore, doch erst mit der 1873 in St. Gallen gegründeten Ausbildungsstätte für Kindergärtnerinnen gelang den Kindergärten in der Deutschschweiz allmählich der Durchbruch.
Auch bei der Entwicklung der Kinderhorte bildeten soziale Anliegen die treibende Kraft. In der Hoffnung, damit Probleme der Eltern wie lange Arbeitszeiten und Armut begegnen zu können, von denen anfangs des 19. Jahrhunderts grosse Bevölkerungsteile betroffen waren. Zwar begann sich die Schulpflicht allmählich durchzusetzen, doch ausserhalb der Unterrichtszeiten blieben die Kinder oft sich selbst überlassen. Im Zuge der Industrialisierung entstanden in Zürich bereits ab 1800 sogenannte «Kleinkindaufbewahrungsanstalten»: Da die tiefen Löhne auch Mütter und ältere Geschwister vermehrt zur Erwerbsarbeit ausser Hause, eben in den Industrien, zwangen, war niemand mehr zu Hause, der sich um die Kleinsten kümmerte. So waren es denn auch oftmals Fabriken – wohl nicht zuletzt aus Eigeninteresse – welche in Zürich erste Kinderhorte realisierten. Und während die Mütter und Väter in den Fabriken arbeiteten, wurde im Kinderhort «Volkserziehung» gelebt: Eine «nützliche Beschäftigung, Handfertigkeit, Verstand und Gemüt anregende Unterhaltung sowie Bildung» standen im Vordergrund. Der Gemeinnützige Frauenverein Zürich (GFZ) gründete 1895 an der Hallwylstrasse seine erste Krippe, der dann weitere Krippen folgten.

Vom Kindergarten- zum Frauenverein Höngg

1887 zog man in Höngg nach: Eröffnet wurde aber nicht eine Kinderkrippe im Sinne einer heutigen Kindertagesstätte, sondern eine «Gvätterlischuel», wie man damals dem Kindergarten sagte – ein wunderbarer, heute fast vergessener Mundartbegriff, abgeleitet von «Gvätterle», womit sowohl das Spielen von Kindern als auch «etwas ohne Ernst zu betreiben» gemeint war. Und einen passenden Verein gab es natürlich auch: 1887 wurde von 90 Frauen und acht Männern der Kindergartenverein gegründet, der ab dem 8. Mai desselben Jahres im alten Schulhaus am Wettingertobel, wo die Gemeinde dafür einen Raum plus Heizung bewilligt hatte, den ersten Kindergarten von Höngg eröffnete. Kindergärtnerinnen nannte man damals noch «Gvätterlitante» oder einfach nur «Tante». Die erste Kindergärtnerin war selbst fast noch ein Kind: Gerade mal 16,5 Jahre alt war «Tante» Anna Frei, als sie die Stelle antrat, an der sie zwölf Jahre blieb, bis sie 1899 an den Kindergarten Wipkingen gewählt wurde. Sie habe die «zappelige Kinderschar, deren Zahl weit über das gewöhnliche Mass anstieg, energisch und doch liebevoll betreut», heisst es. Per 1. November 1913 wurde der Kindergarten der Primarschulgemeinde übergeben. Somit hatte auch der Kindergartenverein seine Zweckbestimmung erfüllt und nannte sich in «Frauenverein Höngg» um.

Vom sozialen Engagement zum Geschäftsmodell

In der Kinderbetreuung blieb man aber aktiv. 1939 war der Hauserstiftung Altersheim Höngg aus dem Erbe ihres ersten Präsidenten Martin Haug das Haus an der Limmattalstrasse 157 vermacht worden, das man dann im Herbst 1946 an den Frauenverein Höngg verkaufte. Bereits am 1. April 1947 eröffnete der Frauenverein dort die erste Kinderkrippe, wo die Kindertagesstätte heute noch, allerdings unter der Leitung des gemeinnützigen Frauenvereins Zürich (GFZ), betrieben wird. Bis 1992 war dies die einzige Kindertagesstätte in Höngg – dann ging es kontinuierlich aufwärts und demnächst wird die 15. KITA eröffnet (siehe Artikel auf Seite XY). Was einst als soziales Engagement, oft auch von bessergestellten Frauen initiiert, begonnen hatte, ist unterdessen ein Geschäftsmodell und eine gesellschaftlich breit akzeptierte Notwendigkeit, vom Staat gefördert, kontrolliert und mitfinanziert. Der Frauenverein Höngg ist, was Kinderbetreuung anbelangt, heute nur noch als Betreiber der Mittagstische im Rütihof, dem Altersheim Riedhof und dem «Sonnegg» aktiv.

Quellen:
Schweizerisches Sozialarchiv
Historisches Lexikon der Schweiz
Ortsgeschichte Höngg und Mitteilungen 14 der ortsgeschichtlichen Kommission des Verschönerungsvereins Höngg.

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